Adolf Reichwein – Hungermarsch durch Lappland

 

Sprach, als er sein Ziel erreichte,

redet angekommen also:

Liebe Mutter, teure Alte,

schaffe Speise gar geschwinde,

dass der Hungrige sie esse,

dass der Gierige sie verschlinge;

lass zugleich die Badstub heizen,

lass mir schnell ein Bad bereiten,

dass der Mann den Leib sich wasche,

und mit Heldenzier sich schmücke!

Aus dem finnischen Volksepos Kalevala

Da standen wir also nun am Rande des geheimnisvollen Landes, der äußersten, fern­sten Ecke Europas, wo die wilde Natur sich noch erhal­ten hatte, die wir alle aus den Prärie- und Indianergeschich­ten kennen, und wo der Mensch nur ein seltener Gast ist, der sich verliert in der wogenden endlosen Weite zwischen Wasser, Fluss und Moor. Danach hatten wir uns gesehnt, einem Stück Erde, wo es keine Verkehrsregeln gibt, keine Vorschriften, Verbotstafeln, Gesetze, wo wir frei wie der Adler in diesen Lüften, frei von Menschen, nur mit dem Lande leben durften. Wo uns nur der Duft von Moos, Gras und Polarblumen umgäbe. Welch kräftiger, erfrischender Duft! Und was für ein Land! Ganz nach unseren Herzen, ohne Weg und Steg, ohne Spuren und Wegweiser, viele herrliche Tagemärsche in die Kreuz und Quere und die Hoffnung dazu, keinen Menschen zu treffen. Und das alles noch in Europa, dort wo es allmählich sich zum endlosen russisch-asiatischen Polargebiet, zur Tundra vor dem Eismeer hinabsenkt.

Es war hoher Sommer. Polarsommer. Die Tage fast ohne Anfang und Ende, und wie wir hofften, Sumpf und Moor leichter zu durchqueren, als zu irgendeiner anderen Jahreszeit. Wer weiß, so fühlten wir, was die­ses leere Land noch einmal erleben würde, das sich hier zu einer gewaltigen granitenen Bastion, der nördlich­sten Naturfestung Europas, gegen das Unbekannte auf­türmte, um dann jäh ins Nordmeer abzustürzen. Wir hatten den ganzen riesigen Felsenschild Skandinaviens bis zu seinem kleinen Hafen umfahren, von dem wir dann ins Landesinnere marschiert waren, um nun nach einer letzten Versorgung mit Lebensmitteln gen Westen ins ganz Leere vorzustoßen. Wir wollten erleben, was ein Land mit uns anfinge, von dem wir gar nichts wussten. Hier standen wir vor seinem unsichtbaren Tor. Wir hatten jetzt schon, umwittert von der herben Urnatur dieser Landschaft, das Gefühl, dass sich hier noch ein­mal große Schicksale ereignen könnten. Dieser äußerste Norden, scheinbar abseits der großen gestaltenden Kräfte Europas im Schatten des mächtigen Geschehens, sollte bald, so sagte uns die Ahnung, zu einer Entscheidungs­zone werden, in der Kämpfe ausgefochten würden, an denen nicht nur die Kriegsmaschinen zur Erde und zur Luft, sondern auch die Geister der Völker selbst auf geheimnisvolle Weise teilnähmen. Uns schien, wir sollen einen Vorgeschmack davon bekommen. Wir wollten die Probe darauf machen. Dreizehn junge Burschen standen wir auf dem hohen Ufer des Flusses und schauten gen Westen, wo sich endlos, im lichten Grau verdämmernd, Welle um Welle eines kaum bewegten hügeligen Lan­des hob und senkte, bis dorthin wo das Grau des Him­mels und der Erde ineinander schmolzen.

Zwischen gelben hohen Dünenufern zwängte sich der Ivalo. Über rote Granithöcker hüpften wie silberige Lachsscharen die schaumigen Wellenkämme. Eine schräge Sonne brach sich im Gischt und zauberte Farben. Gen Süden stand schwer, grau und bleiern eine riesige Wol­kenbank, von Norden strich durch die kargen Birkenkrüppel ein Wind, welcher Moorgeruch brachte: alles deutete auf Regen.

Wir hatten eben, von einem Ufer zum andern kreu­zend, den Ivalo durchquert, waren nass wie Katzen. Es war nach den Uhren etwa um Mitternacht, und uns umgab der fahle Dämmertag des Nordens. Lager wurde bezogen und kaum bedurfte es noch der Worte. Jeder wusste, was er zu tun hatte. Zeltbauen, Holzsammeln, aus spärlichem Krüppelholz und dem, was der Fluss anschwemmte, Tee kochen, Fische fangen, kochen, Ausgabe der Haferflocken — so ging es nun seit Wochen, Tag für Tag, wortlos, nur noch Zweckmäßigkeit, jeder ein Rädchen, die vollorganisierte Marschpause. Wie Gespenster hingen die Marschkleider um das offene im Dämmer hellflammende Feuer. Wer nicht beim Fischen war oder beim Holzsammeln, stand fröstelnd im Kreis und tat das Aufgetragene. Der Wind wurde stärker, die ersten Tropfen fielen. So kannten wir Lappland.

Die letzten Nachrichten, die wir von Deutschland noch auf dem Schiff bekommen hatten, das uns zu der einsamen Bucht an der finnisch-russischen Grenze brachte,  erzählten von einem ewig blauen Himmel, Dürre und Trockenheit. Aber wir kannten seit vielen Wochen nur grauverhangenen Himmel, durch den selten eine Sonne brach, die sich wie zum Festtag in prachtvolle, goldene und purpurne Gewänder warf sonst immer nur unentwirrbare Gräue, in der die weißen Fruchtbüschel des Wollgrases gespenstisch leuchteten, und Regen — endlose Mückenschwärme, die in der Brutluft der warmen Tage zahllos, endlos aus Sümpfen, Mooren und toten Gewässern goren. Und dann diese ewigen Wasserrinnsale, die Stunde um Stunde unseren Weg verriegelten, ach, wie lange war es her, dass wir meinten, wir müssten von Mal zu Mal, Stunde um Stunde unsere Kleider ab­legen, um sie trocken zu halten und, das Gepäck auf der Handspitze wippend, Furt um Furt durchqueren. Ach, wie lange war es schon, dass wir nichts mehr be­dachten und so, wie wir mit der letzten Anstrengung von Sehnen und Muskeln auf dem endlosen Rücken dieses Landes marschierend, ohne Aufenthalt, nur vor­wärts, vorwärts, diese zahllosen Wasserrinnen durchstürmten, nass vom Hals bis zum Fuß, um nur nachts, während der großen Pause, abzutrocknen, wie eine Landschaft, die sich vollsaugen muss und durchdringen lässt vom Element, um es in kurzen, glücklich erwär­menden Pausen wieder auszuströmen. Ja, wir waren ganz in dieses Land eingesogen, selbst grau und farb­los geworden unter diesem Himmel, als ob wir wan­dernde Felsblöcke, im Winde wehende Graskämme der Dünen oder gebeugtes Krüppelholz wären, das sich auf geheimnisvolle Weise losgerissen hatte aus seiner Land­schaft und nun nach Westen strebte, immer nach We­sten, Westen, von einem geheimen Ziel angezogen. Niemand kannte dieses Ziel, nur unsere Beine wussten es, die sich durch die weg- und pfadlose Landschaft dieses Flusses tasteten, wie Rentiere, die seit Jahr und Tag ihren Zug kannten: gen Westen; der wie ein Gesetz war in diesem Land, aus dem Maitau hinauf in die Mattengefilde des norwegischen Fjäll. Ja, wir waren manchmal wie eine trottende Rentierherde, deren Hufe über Stein und Geröll glitten, im Sand mahlten und dann die Sümpfe querten, ja diese Sümpfe. Der Fisch war halb gekocht, als ein Regen prasselte, gegen den jedes Feuer machtlos war. Element gegen Element. Wir waren nichts zwischen ihnen. Die leise Flamme erlosch und doch atmeten wir auf, denn die

Mückenplage wurde weggeschwemmt, und wir lagen ganz zufrieden in unseren sieben Zelten, wir dreizehn, zerschnitten die Fische und ließen uns bei dem halbrohen Zeug wohl sein. Ich erinnerte mich jener Tage bei den Seywash-Indianern an der kanadischen Grenze, die auch von Fisch lebten, Tag um Tag, Jahr um Jahr. Wie schnell das alles abfällt. Alle die Ansprüche, die wir von zu Hause mitgebracht hatten, alle jene Scheinbedürfnisse, in deren Bannkreis wir daheim lebten, hier waren wir allein mit Wasser, Stein, ein paar Beeren und jenem kleinen Vorrat, den wir aus der Welt mitgebracht hatten in diese Einsamkeit. In die Rucksäcke verstaut, schrumpfte er von Tag zu Tag: Rentierschinken, Knäckebrot, Haferflocken, Zucker, Tee. Ich hocke in meinem Zelt, auf den Knien die Karte. Es war jene zerknitterte und halbzerschlissene Karte des weiten Landes, die uns nun seit Wochen begleitete und die so leer war, so unheimlich still und leer, die nichts sagte. Ich las sie immer wieder und wieder, sie gab keine Antwort. Jetzt kreisten meine Gedanken um

diesen winzigen Kreis, bei dem stand: Kultala. Das war mitten in Lappland, wie ein Schicksalspol, der uns anzog. Wenn wir marschierten, war die Kolonne wie eine Nadel, die Tag für Tag auf diesen Pol zeigte. So rückten wir westwärts, westwärts auf diesen Pol und Scheitelpunkt des Unternehmens: Kultala. Es waren Wochen her, da erzählte man uns von Kultala, der Siedlung am oberen Ivalo. Seit gestern lag unausgesprochen und peinigend wie ein Mückenschwarm die Frage über der Kolonne: Kultala? Wir schwärmten beiderseits des Flusses wie eine aufgestörte Herde und suchten: Kul­tala! Aber das Land blieb stumm, Steine, Sümpfe, we­hendes Wollgras unter uns, zwischen den Dünen der Ivalo, neben uns zwischen dem Sumpf der Ivalo, nichts von Kultala. Ich ging immer wieder mit den Gedanken wie ein spürendes Tier um diesen Kreis, um dieses eine Wort auf der leeren Karte, und während aus den Zelten, die hinter den Regengittern wie winzige gespenstische Pyramiden unwirklich grau herüberschimmerten, knappe Zwiegespräche flatterten, hämmerte in mir nur dieses eine Wort: Kultala. Ich wusste, es klopfte an alle Zelte draußen, dies Wort, es spukte in allen Köpfen, es war das Zauberwort aller Gesprächsfetzen, die draußen im Kreise gingen. Denn jeder wusste, die Rucksäcke waren leicht und leichter geworden mit jeden Tag, leer und leerer die Fressbeutel, knapp und knapper schon die Rationen, müde und müder die Knochen, die von Fels zu Fels federn mussten, von Wollgrasbusch zu Wollgrasbusch im Sumpf, und immer zwingender waren wir in den Bannkreis dieses einen Wortes geraten.

Draußen rauschte der Urregen, über die winzig geduck­ten Zelte pfiff der Wind, zwischen den Steinbrocken am Strand gurgelte sich der Ivalo durch die Dünen träge gen Osten, von wo wir aufgebrochen waren und wo weit, weit von hier die letzten gastlichen Blockhütten standen, von denen wir, ein wenig fragend, vor langem Abschied genommen hatten.

Es war zwei Uhr nachts und still geworden in den Zel­ten, nur der Regen rauschte, und ich war allein mit meinen Gedanken um Kultala. Neben mir kauerte mein Zeltkamerad, er war wortlos eingeschlafen, und in dem fahlen Licht, das durch die Zeltwand sickerte, spielte das Lächeln des Achtzehnjährigen um den Mund, der stumm von Dingen erzählte, die nur der Traum von weither zaubern konnte.

Draußen stand ich allein im Kreis der Zelte, der Regen strömte vom Scheitel über Brust und Glieder, als ob es ewig so wäre, auf diese unersättliche Erde, auf der ich stand, und die ich um ihr Wissen befragte. Da wurde mir klar und hell, dass die Entscheidungsstunde des Unternehmens gekommen war. In meiner Hand lag der Kompass, leise zitternd zeigte die Nadel, fragend suchte der Blick: West-Süd-West — und ich entschloss mich, um jeden Preis, ohne Kompass, ohne Karte mich an diesen Fluss zu klammern und zu marschieren, nur zu marschieren, bis wir jenen kleinen Klumpen kauernder Blockhäuser trafen, der Kultala heißen sollte. Punkt fünf riss ich die Zeltluken auf. „Hallo, los gehts!“ Und dann geschah wieder alles stumm und nach dem Ge­setz, Zelte wurden gerollt, die Reste verstaut, unheim­lich leicht gewordene Rucksäcke aufgebuckelt, nur ein Wort: Vorwärts! Und langsam, noch etwas träge aus verkrümmten Knochen sich hebend, kam die Kolonne in Bewegung. Der Regen machte im Nu die Gesichter wach, und als ich sie mit einem Blick überflog, sah ich die stummen entschlossenen Mienen der Marschgefährten, die gen Westen zeigten.

Wir waren einen Tag fast ohne Pause marschiert, die Dünenufer lagen weit hinter uns, das leicht gewellte Land, um den oberen Ivalo versumpft, umgab uns, die schwingende Linie des Horizonts lag um uns wie ein weitwürfiger Bannkreis, der scheinbar ohne Ende mit uns wanderte. Die schweren Nägel klangen nicht mehr hell auf rotem Granit. Das Moor, der Sumpf quoll in das Schuhwerk, lautlos, und es gab seit vielen Stunden nur denselben quälenden Laut, wenn die Füße der Horde sich aus dem quatschenden und quirlenden Sumpf lösten. Wir schienen gefangen in diesem zähen Brei aus dem die winzigen braunen Sumpfwässerlein sich lösten, um zum Ivalo zu rinnen. Die Landschaft fing uns wie eine Urwelt auf, und die Zeit hörte auf zu sein.

Der Regen hatte sich verloren in einem dunstigen Gerinnsel, der schwere Himmel war leicht geworden über uns und spannte sich in einem blaudurchschimmerten Grau, die Sonne war aus der strahlenden Helligkeit des Nachmittags hinabgesunken gegen Nordwesten, wo sie uns als blasse Scheibe begleitete, und das nordische Tagdämmern hüllte uns ein in sein leichtes Gespinst von Luft, Feuchte und müdem, traumschwerem, nächtlichem Licht. Vor uns hoben sich leichte Wellen aus dem Land, Krüppelweiden gaben scharfgezackte Kämme gegen den Lichtschein zur Rechten, und mit einem Male kam in uns allen unausgesprochen die Ahnung, dort muss Kultala sein. Wir lebten schon so aus dem Geist dieser Landschaft, dass jede Bodenfalte, jede Hügelbildung zu uns sprach, und wir wussten, dort auf der Dünenhöhe, kaum merklich über der breitlagernden Landschaft erhoben, dort musste es, dort nur konnte es sein. Die Schritte wurden schneller, alle bewegte nur das eine Gedankenspiel. Das Buschwerk wurde dichter. Wie ein breitgestreuter Schwarm stiegen wir allmählich die erste Düne hinan, und mitten in der eiligen Bewegung stocke plötzlich ein Fuß. Drüben zur Linken stand einer wie festgebannt, sah sich ein wenig ratlos um, alles zog sich zusammen zu diesem Punkt, wie eine Herde um ein Hindernis. Da stand schräg, halb vermorscht, aus dem sommerlichen Kraut scharf und trostlos ragend ein Holzkreuz. Es ging wie ein Blitz durch alle: dieses war Kultala. Wortlos zerstreute sich der Schwarm wieder über die Dünen. Noch ein Kreuz, ein weiteres, eine Gruppe von Kreuzen, und dann tat sich zwischen Krüppelwuchs und Gras ein Holzfirst auf, ein halbzerfallenes Blockhaus duckte sich da, lauernd und schielend aus dem dunklen Auge einer zerfallenen Tür. Nur wenige Schritte weiter, und noch eine Holzruine starrte uns an, noch eine und mehrere. Dies war Kultala. Es brauchte keiner Worte, wir verstanden alles mit einem Male. Und wie auf geheimen Entschluss fielen alle Rucksäcke zwischen das Holzgerümpel. Jeder der Dreizehn lag nun stumm und fragend und wartete auf ein Wort.

Jetzt musste gehandelt werden, jetzt musste die Entscheidung zwischen den geheimen Zeichen dieser Ruinen fallen. jeder wusste, dass der Vorrat der Rucksäcke bis Kultala berechnet war, jeder hatte von der Hoffnung gelebt, dass die Kolonne hier Menschen treffen würde, Ruhe für ein, zwei Tage, um dann wohlversorgt, heiter und voller Zuversicht den Marsch weiter nach Westen anzutreten. Nichts mehr von alledem. Jedes wohlige Gefühl fiel ab, und es blieb nur die starre Erwartung: was soll geschehen? Die Probe war da. Ich forderte alle auf, einen Kreis zu bilden. Die Rucksäcke, das heilige Gut dieser Männerburg, lagen zwischen uns, und es begann das Gespräch. Es war das erste, wirkliche seit vielen Tagen, und jeder wusste, dass er nun sein Wort zu sagen habe. Die Frage war einfach: zurück oder vorwärts? Hinter uns lag ein langer und mühseliger Marsch, aber hinter uns lagen auch die Hütten der Menschen, gastfrei und immer hilfsbereit. Wenn wir nach Osten schauten, hatten wir die Gewissheit, wieder den Fisch zu treffen, die harten, steinigen, aber auch wegweisen­den Ufer des Ivalo, die Dünen, zwischen deren niedri­gem Wuchs die leeren Rentierpfade liefen. Wenn wir nach Osten schauten, wussten wir um ein weites, doch sicheres Ziel. Im Westen aber spannte sich nur endlos Linie hinter Linie, zuletzt verdämmernd in einer ungreifbaren Weite, begleitet von der blassen und trostlosen Scheibe der Sonne, die sich Mitternacht näherte. Nach Westen war die Welt leer, ohne Menschen und Hilfe. Dort gab es vielleicht Sümpfe, Wasser, Sand, quälende Mückenschwärme und, aufragend aus dem Innern dieser Erde, Granit, bar und nackt. Die Frage stand also: zurück oder vorwärts? Und hinter dieser Frage stand: Hunger. Wer wusste, was das ist? Aber es gab noch etwas anderes. Vorwärts, das bedeutete den letzten Einsatz für das Ziel, um das wir uns seit vielen Tagen geschunden hatten, um das wir grau von Gesicht und dunkel geworden waren. Dieses Vorwärts, das uns seit Tagen in den Knochen lag, trieb uns an wie eine Kraft, die wir selbst entfesselt hatten und die uns jetzt im Nacken saß. Wir schauten alle nach Westen, und es war, als ob durch diese Wendung ein magnetischer Strom in uns gefahren wäre, der befahl: Vorwärts. Es wurde alles offen und ohne Rücksicht in Gedanken aufgerollt. In wenigen Worten gerann das Für und Wider und dann war zu entscheiden. Es war der Augenblick der leisen Frage. Alle nickten. Es wurde ein letzter Versuch gemacht, Reste von Leben zu entdecken, alles war tot und leer. In einer halbverrotteten Nische lagen angefressene Karten, verblichen die Zeichnung, ein paar fremde Worte, irgendwo rostete eine Säge, der Rest einer Kochstube war von Spinngeweben grau überzogen, das Geheimnis Kultalas tat sich vor uns auf, und wir fanden keine Antwort. Aber wir mussten eine Antwort finden auf das, was geschehen sollte. Die spärlichen Reste von Brot, Haferflocken und Zucker wurden zaghaft zusammengelegt, einige Säcklein mit Notvorrat abgefüllt für die Kranken von später und der Rest auf einige Tage verteilt. Jeder bekam beim Aufbruch in der Früh einen halben Becher Haferflocken, eine zwei Finger breite Brot­schnitte, vier Stückchen Zucker, und dann hatten wir Tee. Der Notvorrat wurde den besten Kerlen anver­traut. Die Zelte wurden hastig noch einmal hingestellt, die Belegschaften krochen durch die Luken, schlossen sie, die Enttäuschung verwandelte sich in bleierne Müdigkeit, und bald kamen die harten Atemzüge aus den spitzen Pyramiden. Es war mir, als ob selbst der Atem schärfer und härter geworden sei, so wie die Züge der Gesichter in dieser merkwürdigen halbhellen Nacht etwas Scharfes, Geschnittenes, in ihrer Entschlossenheit Starres bekommen hatten. Die Trümmer Kultalas lagen einen Tagesmarsch hinter uns, und immer noch verfolgte uns diese tote Maske, in deren modernden Winkeln kein Puls mehr vom einstigen Leben spürbar gewesen, die Kolonne packte wieder — ich weiß nicht zum wievielten Male — die leichten Zelte, kaute aus der Hand ein winziges Häuflein Haferflocken, kaute und kaute, setzte sich in Trott und kaute immer weiter diesen jämmerlichen Rest, der aus dem Säcklein zusammengekratzt war. Zum ersten Mal trat das Unheimliche in unseren Kreis, es grinste aus den bleckenden Zähnen, die zwischen den mahlenden Kinnbacken wie weiße zackige Mühlsteine schimmerten. Es war, als ob diese Zähne und diese willenlos mahlenden Backenknochen den letzten Rest von Hoffnung halten wollten, den letzten dünnen Geschmack des Lebens. Und plötzlich ertappte ich mich ganz hell und wach: ohne dass ich es gewollt hatte, ohne dass ich es verhindern konnte, schoben sich langsam meine Kinnbacken umeinander, mahlten die Zähne. Und in der unheimlichen Klarheit um das, was hier geschah, gewann ich mit einem Ruck wieder die Gewalt über mich selbst, wusste klar und schmerzlich, dass jetzt alles mir anvertraut sei, dass einer da sein müsse, der alle wie Glas durchschauen könne, dass jetzt auf alle geheimen inneren Regungen dieser dreizehn Marschierenden mit feinster Wachsamkeit zu achten sei, dass jetzt nur die geheime Lenkung der Kolonne, der stumpf gewordenen, ohne Wort und Geste nur durch die ganz von in­nen kommende, aus dem klarsten Bewusstsein quellende geheime Führung uns retten könne.

Der Tag hob sich zu strahlender, warmer sonniger Klarheit, die Sonne stieg und stieg. Die letzten Zelte wurden verpackt. Einer lehnte noch ganz versunken in der Astgabel der niederen zerzausten Krüppelkiefer, die wenige Stunden wie eine wetterzerfetzte dunkle Fahne über unsern müden Leibern Wache gestanden hatte. Wieder nur das kurze Wort, das uns immer wieder vorwärts trieb. Über den Gewässern, in denen wir für Minuten versanken, um ihnen triefend zu entsteigen, flimmerte die warme Luft, aus dem schwarzen Moor stiegen Blasen, das Wollgras stand reglos mit erstarr­ten weißen Flocken über der weiten flimmernden Flä­che. Wenn ich mich umschaute, sah ich weit, weit hinter mir zerstreut zwölf gebeugte, mühsam trottende braune und wirre Gestalten, wie die Glieder einer schweren Kette, die von einem geheimen, unsichtbaren, aber übermächtig starken Magneten schwer und ruckweise vorwärts bewegt wird, vorwärts, vorwärts. Meine Linke umklammerte den Kompass. Von Weile zu Weile verharrte ich mit einem verstohlenen Blick aufs Blatt, West-Süd-West, und weiter gings. Zu den harten Beschlüssen von Kultala gehörte auch: zwei Stunden Marsch, fünf Minuten Pause, das bedeutete Hinwerfen mit Gepäck, Augen schließen, ein leises Summen im Ohr, aufstehen und weiter, weiter — zwei Stunden Marsch, fünf Minuten Pause — zwei Stunden Marsch, Marsch, Marsch, endlos. Wir waren mühsam und schwer laufende Maschinen geworden. Nichts änderte sich mehr. Alles konnte so bleiben, ewig so.

Vor uns dehnte sich ein weites dunkelbraunes Moor. Mir schien, als ob die Wollgrasbüschel hier spärlicher und weitwürfiger stünden und zwischen ihnen breite braunglänzende Sumpflachen gähnten. Aber wir mussten hindurch, wir mussten! Es war sinnlos zu denken dass es hier Umwege gäbe. In der Entscheidung gibt es keine Umwege. Der kürzeste Weg ist allein der wahre. Ich wartete bis alle zusammenstanden, bis die lange Kette sich zusammengeschoben hatte zu einem Klumpen fast entspannter, unheimlich leerer, brauner stoppliger Gesichter und sagte: „Wir müssen da durch“, und dann noch, dass sie auf mein Zeichen warten sollten. Die Sonne stand hoch und stach. Seit unserem Aufbruch lagen tollgewordene Mückenschwärme wie eine lange Wolke über uns. Aber wir spürten nichts mehr. Manchmal nur griff die Hand in den Nacken und holte eine zerquetschte Masse dieser entsetzlichen Sommerplage, und man starrte auf die blutige Handfläche, die seit Tagen rostrot war von trockenem Blut.

Ich versuchte, mit einigen Sprüngen von Büschel zu Büschel abzukommen, hinein in den Sumpf, um bald zu spüren, dass die Kraft nicht mehr reichte für die federnden Sprünge, mit denen man diesen Sumpf bewältigen musste. Der nächste Sprung geriet zu kurz, ein winziges Stücklein nur, und schon merkte ich, dass die zähe braunschwarze Masse meine Knöchel umklammerte. Wie eine Fliege auf dem Leim versuchte ich mich loszuzappeln und machte es nur noch schlimmer, klebte bald mit den gekrallten Händen, die verzweifelt wie Flügel schlugen, in diesem Sumpf und spürte klar, wie zum Ticken einer Uhr unendlich langsam aber unentrinnbar der Körper sackte, dieser zähe, schleimige Dämon sich um die Wade krallte — als mit einem Male in meinem Rücken etwas lebendig wurde; ich hörte Klirren von Metall, Rufe, Sprünge und wurde ganz still. Zwei kamen auf einer Bahn von Krüppelweidenzweigen angekrochen, legten ruhig und bedacht, wie exerzierend Bündel um Bündel vor sich hin, krochen Elle um Elle näher und näher. Alles geschah ohne Hast. Es war tiefe Stille sonst in der Kolonne. Ohne ein Wort arbeiteten beide sich heran, und mit einem Male packten mich vier eiserne Arme, zogen, zerrten, renkten mir die Kno­chen, schafften mit einer fiebernden Gewalt, und nach einer endlos, endlos langen Kette von Minuten, Stun­den, wie mir schien, lag ich völlig erschöpft kraftlos auf einer Bahn von Weidenzweigen, spürte durch geschlos­sene Augenlider die scharfe und gewittrig stechende Sonne, genoss das Strömen von Blut durch alle Gelenke und war gerettet. Neben mir lagen keuchend, als ob sie Kraft in ihre entleerten Körper pumpen müssten, die beiden Retter, und in dieser Stunde wurde mir klar, dass wir gewinnen würden. Alle hatten an dem Ereig­nis blitzklar erfahren, dass jetzt Äußerstes herzugeben sei. Und der Sumpf wurde bezwungen. Die Sonne sank auf ihrer ebenmäßigen Bahn, die zum  Gesetz unserer Tage geworden war. Stunde um Stunde, zur Kimmung dieses starrgewordenen Meeres von Sumpf, Sand und Fels, von Mittag gen Mitternacht quälten wir uns vorwärts. Immer wieder streifte der Blick die zitternde Kompassnadel, unentwegt stießen wir durch in diesem weg- und pfadlosen Urland, West-
Süd-West. Und näher kam die helle gewohnte Nachtstunde, wo nach dem Zeichen der Uhr die Kolonne zu stocken pflegte, um das Gepäck wegzuwerfen, wo jeder sich dehnte, hinwarf und für eine kurze Weile, wäh­rend der Zeiger sich dreimal drehte, ganz hineinsank in ein stark duftendes Kraut oder ein Büschel von schnei­dendem Gras, um alles zu vergessen, auch dieses boh­rende und nagende Gefühl im Leib, das Hunger hieß. Da — das Auge klammerte sich an ein winziges Stücklein Profil, das über eine flache Düne ragte. Das Profil bekam etwas Festes und Zwingendes. Es saugte unseren Willen an, kam näher und näher, wurde zum Ziel aller unserer Wünsche, und jeder genoss schon jenen Augenblick, wo wir dort verhalten würden, Rucksäcke weg, hinwerfen, stille sein und atmen. Aber plötzlich wars wie ein Schlag. Ich fuhr mit der Hand über die Augen, um eine Narrheit wegzuwischen, sah scharf und schmerzlich hin, vergaß allen Halt, rannte wie besessen, kauerte an den Wurzeln dieser Alraune von Krüppelkiefer, tastete mit der Hand über zertretenes Gras und verfiel ganz dem Entsetzen dieses Augenblickes. Hier waren wir vor zwanzig Stunden aufgebrochen, um zu marschieren, nur zu marschieren, den Kompass in der Linken verkrallt, WSW, immer WSW. Das Rätsel war grausam, keiner begriff dieses wahnsinnige Spiel. Waren wir alle dem Wahnsinn verfallen? Es mag wohl so gewesen sein, dass wir alle mit leeren Augen aufeinander stierten, dass jeder im andern den Todfeind abspürte, der in jedem saß, kauerte und fraß, der Wahn, in dem alles nur kreist und kreist, nichts mehr fest ist, in dem der Boden sackt und sackt, in dem die Hände nur greifen und nichts fassen. Ob dieses das Ende ist? Ich schaute diesen Kompass an, auf dessen Feld unentwegt die Nadel zitterte, starrte zu der gelben Sonnenscheibe, die dort stand, wo Erde und Himmel braun und grau ineinanderflossen, riss den Rucksack auf und verstaute das Instrument tief im Dunkeln dieser Höhle wie einen nutzlos gewordenen Mühlstein, den man ins Wasser wirft, wo es am tiefsten ist. Ein verlorener Kamerad, diese Nadel. Weg vom Herzen. Wir waren ganz ver­lassen. Wir ahnten damals nicht, warum uns der Kompass so narren musste, und welches also die eigentliche Ursache war für die Niedergeschlagenheit, die uns nach diesem Erlebnis befiel. Erst viel später, in Helsinki, erfuhren wir die Wahrheit: zwischen den großen Magneteisen-lagern in Schwedisch-Lappland bei Kiruna-Gällivare und den letzten kleinen Lagern bei Kirkenes am Nord­meer, im nördlichen Winkel Norwegens, sind zahllose kleinere Magneteisenfelder unter der Oberfläche ver­streut, ohne dass man sie im Einzelnen kennte und wüsste. Nur der Kompass spürt sie deutlich. Bei der Durchquerung Finnisch-Lapplands von Osten nach We­sten waren wir nun in den magnetischen Kraftkreis der Felder geraten. Unser Kompass irrte ab von seiner wahren Richtung, und wir hatten großes Glück, dass der Marsch uns schon am ersten Tage dieser Störung genau im Kreise führte, so dass wir sofort gewarnt waren und wussten, dass der Kompass aus irgendeinem Grunde wertlos für uns geworden sei. Hatte der Kompass uns auch im Stich gelassen, so war die Zeit unaufhaltsam, unbeirrbar, die einzig treue. Auf der kleinen schimmernden Scheibe am Handgelenk rückte der Zeiger von Zahl zu Zahl, Stunde um Stunde. Seit Tagen schleppten wir uns vorwärts, von Land­marke zu Landmarke, von Busch zu Busch, von Stein zu Stein, kaum noch mächtig des Gefühls von Furcht, und Hoffnung und nur in Augenblicken gepeinigt von den Schatten des Gedankens: durch, durch, durch! Und einmal musste ich plötzlich stehen und spürte über mir die Gnade dieser Sonne und den Hauch der einen Frage: ob sie uns helfen würde? Wir waren ganz gelöst von dieser Erde, die uns noch vor wenigen Drehungen des kleinen Zeigers ganz in ihrem Bann hatte, an der wir klebten, die uns auch mit ihrer entsetzlichen Leere noch festhielt. Wir waren ganz los von ihr und lebten nur noch mit diesem Gestirn, das über uns seine Bahn zog und zu uns sprach: unbeirrbar nach Westen, Westen. Einer fieberte schwer. Er wurde mitten in die Kolonne gepackt, wie in eine warme Hülle. Ein anderer konnte die peinigende Leere im Leib nicht mehr ertragen und fraß wie ein Rentier die gerbenden Blätter der Zwergweiden, brach alles aus und schwankte, der Längste und Stärkste von Dreizehn, zwischen stützenden Kameraden. Andere wussten keinen Ausweg, kauten das tote Rentiermoos und waren entsetzt, dass es sich nicht schlingen ließ. Wieder stand die blasse Sonne wie ein runder Mond zur Rechten, wieder schleppte sich die schwere Kette durch einen Sumpf, der kein Ende nahm, als plötzlich einer, der letzten einer, mit einem Schrei, als ob ein Glied mit hellem Klang aus der Kette spränge, vorwärts stürmte, wie von rasender Kraft getrieben, mit Riesensprüngen, wie ein Tier, von Höcker zu Höcker stürmend — jetzt schon weit vor der Spitze, entfesselt zum Letzten, eine niedere Düne nehmend, plötzlich prallend, als ob er gegen eine unsichtbare Wand gerast sei, die Arme werfend, zusammensackend in die Erde und brüllend wie ein Stier: „Ein Haus!“ Was war das? Wahnsinn? Was trieb ihn dort? Der Erste am Ende? Aber das Wort zündete wie ein Zauber in allen: Haus, Haus, Haus! Alle federten, sprangen von Höcker zu Höcker, ein Schwarm von Losgelassenen.

Alle nahmen in einem Sprung die Düne, warfen die Hände, brachen zusammen, keuchten, murmelten: „Ein Haus, ein Haus.“ Der Sonne entgegengesetzt, im Süden schimmerte etwas Winziges, Helles, das märchenhaft zu strahlen schien, und vor dem dunkleren Himmel entschwebte ihm lebendig, wirklich lebendig ein dünner Rauch, der sich im Firmament verlor, aufstieg, schwebte und verlor. Rauch, ein Haus, und Menschen! Dreizehn Augenpaare starrten dieses Wunder an, dieses helle winzige Ding, das erste Menschenzeichen in einer echolosen Leere. Und dann sprang einer wie gepeitscht, raste im Kreise, tanzte. Alle sprangen auf, als ob sie neu aus dem Nichts geschaffen seien, packten sich, schüttelten einander wie Stämme im Sturm, küssten sich, umarmten sich fest, hielten einander, wie um sich nie wieder los­zulassen, weinten für einen Augenblick, einer an der Brust des andern, und dann schrie einer, alle schrien es mit: „Saksa, Saksa“, die Sachsen, die Deutschen, und mit tiefem gellenden Schlachtruf stürmte die Kolonne, als ob sie neugeboren sei und die Tat erst beginne, nach Süden auf dieses helle, winzige Etwas zu, aus dem friedlich wie ein stilles Lebenszeichen der blaue Rauch stieg. Wir waren gerettet. Es war der 28. August 1928, zwei Uhr morgens.

Aber zwischen uns und dem Haus lag ein See. Welcher? Wir ahnten es nicht. Er schien sich in vielen Windungen zwischen grünmattigen Moränenketten weit durchs Land zu ziehen, eine schmale Gletscherrinne, nicht breiter hier als achthundert Meter. Das jenseitige Ufer tauchte allmählich in die Lichthülle des aufsteigenden Morgens. Wie ein winziges Spielzeug darauf lagen doch fünf Blockhäuser, vier verwitterte, graue und zwischen ihnen leuchtend, schimmernd in hellgoldener Frische, das neue Haus, auf das noch kein Herbst, kein Winter ihre Spuren geschrieben hatten, das Haus unserer wun­dersamen Errettung. Weit hatte es, ein stiller Glanz, ins dämmrige mitternächtliche Land hineingeleuchtet, viele Wegstunden weit schimmerte es im unkörperlichen Grau der mitternächtlichen Stunde, wie ein still glim­mernder Leuchtturm. Jetzt wo wir es greifbar nahe sahen, vermeinten wir lang über wogende Lande ge­fahren zu sein, wie über die Dünung einer endlosen See, um endlich dieses Leuchten zu entdecken, jenes schimmernde Etwas, das völlig einsam und verlassen in einer namenlosen Weite unsere Blicke auf sich zog, wie ein Magnet uns bannte. Was war es am Ende? Ein einfaches Blockhaus, wie es tausende gab, aus dessen Stämmen gewiss noch das Harz des letzten Frühjahrs troff, in dessen Holz, wenn es abendlich und kühler wurde, noch das letzte gärende Leben atmete, ehe es sich ganz zur Ruhe legte, festgefügt und rechtgewinkelt, um grau zu werden, wie alle seine älteren Geschwister hier, und möglichst wieder hineinzuwachsen in diese Erde, der es entstammte, immer gebückter, geduckter unter dem breiten Schindeldach; müde, hinabsinkend wie ein Greis. Aber noch stand es herrlich und leuch­tend da, jauchzend in der Sonne, und es war unser Haus. Wir streichelten es mit unseren Gedanken, wir sangen ihm einen Lobgesang, denn es war ein Leitstern geworden zum namenlosen Ufer unserer Irrfahrt. Der See lag zwischen uns und begann in matten mor­gendlichen Farben zu spielen, zwischen Grau und hellem Rot, und zahllos fielen zärtliche blaue Töne dazwischen. Immer noch stieg wie eine helle, zarte leuchtende Säule der Rauch aus dem neuen Blockhaus, dort gab es Men­schen. Wir waren etwas ratlos, denn der See dehnte sich schier endlos gen Süden und Norden, und wir lagen nach dem wahnsinnigen Lauf der letzten Stunden aus­gepumpt, zerschlagen zwischen dem Kraut der Moos­beeren, außerstande, uns noch aufzuraffen. Ich befahl die verwegenen zerlumpten Gestalten hinter eine niedere Düne und stand nun allein am Ufer des Gewäs­sers über das ich zwischen hohlen Händen meinen ersten Ruf zu den Hütten drüben schickte. Nichts regte sich. Ich rief wieder mit aller noch verfügbaren Kraft, rief abermals. Nichts geschah. Es schien endlos zu dauern, und die Geduld drohte zu springen. Wie ab­genutzt wir waren. Die leiseste Spannung traf uns sofort ins Mark. Ich schickte noch einen langen Ruf übers Wasser. Da öffnete sich auf einmal eine Tür im neuen Haus, ein winziger schwarzer Schacht ins Innere tat sich auf, und davor stand breitspurig ein Mann. Ich rief und rief und schwenkte ein langes Tuch wie eine Fahne über mir. Der Mann schien die Hand über die Augen zu legen, machte kehrt, ging ins Haus zurück und schloss die Tür. Ich rief und rief, unentwegt, ohne Pause. Nach langem öffnete sich wieder diese winzige Tür, auf die ich starrte, dass schon die Augen schmerzten, und heraus traten eine Frau, etwas gebeugt, wie mir schien, und ein junger Mann, der sie überragte. Er stand jetzt hinter ihr und schaute über ihren Scheitel unentwegt, gelassen und reglos, wie sicherndes Wild, zu mir herüber. Ich schwang meine helle Fahne zu einem Wirbel über mir und bannte alle Kraft, die mir noch geblieben war, in diesen Schwung. Die gebeugte Frau machte ein paar Schritte zum Wasser, der andere folgte ihr, ich schickte alle bohrende Kraft, die mir noch geblieben war, hinüber, um sie geheimnisvoll zu lenken. Jetzt waren sie am Wasser, jetzt nestelte der Junge am Tau eines Kanus, die Frau stieg ein, der Junge setzte sich in den Steven und nun — es war kaum zu fassen — blitzte in der Frühsonne der erste Paddelschlag, der Kiel war haarscharf wie ein Pfeil auf mich gerichtet. Es war unfassbar. Menschen, die zur Welt gehörten, kamen auf unser einsames Ufer zu. In jedem brannte der Vorgeschmack, über das trennende Gewässer zurückgeholt zu werden in die Oberwelt, ins Leben und Lachen, ins Reich der heiteren Rede, in jene einzige Welt, in der wir — dies wussten wir — nur leben und atmen konnten, die Welt der Menschen. Schlag um Schlag führte der Junge im Boot das Ruder, dessen Spur silbern blitzte, näher und näher kam der Kiel, und immer noch stand ich einsam am Ufer des Sees. Ich spürte, welche Beherrschung die Zwölf in meinem Rücken sich abzwingen mussten, um stumm und versteckt dieses Schauspiel aus ihrer Verborgenheit zu erleben, um auf sich zukommen zu lassen, was sie selbst noch nicht glaubten, dem sie nun entgegenstürmen möchten, um es festzuhalten für immer. Jetzt war das Kanu nahe, hundert Meter vom Strand, still und reglos, das Ruder lag unentwegt quer überm Boot, vier Augen schürften prüfend an mir herum von Kopf zu Fuß, um dieses Ungewöhnliche zu begreifen. Ich machte ein paar Schritte ins Wasser hinein, stand bis zu den Knien im See, greifbar nahe schien das Boot, nichts rührte sich. Ein Gedanke peinigte mich: nicht schrecken, von innen her mit aller Liebe halten. Ach, hätte ich doch jetzt die Kraft, Gutes zu zeigen. Der Junge nahm das Paddel und kam zwei Schläge näher. Etwas zog mich unwiderstehlich, ich stieg Schritt um Schritt, wie im Traum, tiefer in den See, der Junge machte noch einige hastige Schläge, und alles geschah in einer atemlosen Stille. Die Spannung sprach aus dem halbgeöffneten Mund

der beiden, im Rücken spürte ich ins Gras verkrallt Fäuste, gereckte Hälse und sprungbereit die Zwölf wie Tiere. Mit einem raschen Griff hatte ich das Boot gefasst, der Junge gab erschreckt einen Schlag zurück. Aber ich hatte es jetzt, um nicht wieder loszulassen, griff Hand über Hand am Bootsrand entlang und streichelte dann, ganz unbewusst, die alte, gebeugte verhutzelte Frau über den silbrigen Scheitel, drückte ihr zart die runzligen Hände, lachte ihr ins wasserhelle Auge, streifte ihr behutsam den Arm, und mir war in diesem Augenblick, als sei sie unser aller Mutter, etwas vergrämt und doch nicht verzweifelt, ein wenig gebeugt und doch noch aufrecht, ernst im Faltenwurf ihrer zermürbten Stirn, aber klar, treu, ja jung und glänzend noch im Auge. Und dieses Auge war eins mit dem Schimmer des Sees, es strahlte just das Licht zurück, das uns neue Freude und neues Leben schenkte. Mit beiden Fäusten hielt ich jetzt das Boot und rief — ich brauchte kaum zu rufen. „Auf, ihr Burschen!“ Da sprangen sie, wie zwölf dunkle Säulen gegen den hellen Himmel, entfuhren wie auf­geschossen der Erde, ich spürte im Ruck des Bootes das Entsetzen der beiden. Die Alte war starr geworden wie Granit, der Junge hatte eine scharfe und einzige Falte zwischen den prüfenden Augen. Für beide war es das große, zunächst grausig anmutende Erlebnis ihrer Einöde: dreizehn junge Männer, fremd und ohne Sprache, dunkelbraun von Teeröl und Sonne, von Stra­pazen zerrissen und zerfurcht, hungrig bis zur Gier, waren hier plötzlich, wie Gespenster, der Erde entspros­sen und waren Wirklichkeit. Zwei Fäuste umklammerten den Bootsrand, kein Entkommen. Der Junge hatte sich am schnellsten gefasst, fuhr sich noch etwas verlegen durch den gelben Schopf und hatte schnell ganz ver­trauensvolle Augen, die neugierig diese merkwürdige Kumpanei musterten, die da an seinen Strand verschla­gen war. Ich zog jetzt das Kanu hinter mir ganz dem Lande zu, und der Junge — er mochte etwa fünfzehn Jahre alt sein — half mir rasch mit ein paar Paddelschlägen nach. Der Kiel knirschte auf dem Sand, und schnell hatten wir drei unserer Kolonne samt Gepäck auf dem Boden des schwachen Fahrzeuges verstaut, dessen Bord­rand nur noch knapp übers Wasser ragte, gaben ihm einen heftigen und kurzen Stoß, dass es zurückschnellte auf den See, befahlen für sofortige Rückkehr zu sorgen und freuten uns an den starken Schlägen des Jungen, der mit dem Geschick des Wildnisbewohners seinen Kiel auf die Siedlung richtete und mit harten Schlägen das schwerbeladene Boot auf den ersten Rückmarsch brachte. Dann kam der Junge allein zurück und bei der vierten Ladung war ich selbst an Bord des winzigen leichten Fahrzeuges, das unter unsrer Last fast zu bersten drohte, ließ das kristallene Wasser des Sees durch meine Finger gleiten und sog mit unendlich wohligen Gefühlen dies Bild in mich, das vor mir, fast ins überlebensgroße, wie mir schien, und immer noch lebensnäher aufwuchs: diese menschlichen Hütten, die schnell für uns zum Inbegriff des Geborgenseins geworden waren. Der Kiel sang leise auf, als er über die ersten Kiesel strich, wir sprangen ohne Geduld über Bord, dass das Wasser spritzte, und standen am neuen Ufer. Da warteten schon in der Tür des hellen Hauses im Kreis unsere Kameraden. Und mitten im Kreis stand ein Mann, nicht groß, aber übernatürlich breit, aus dessen mächtigem Schädel zwei unerhörte Augen blitzten, die mit einem Male die ganze Szene zu beherrschen schienen, Augen wie flüssiger Stahl und strahlend wie blaue Sonnen, so leuchteten sie. Der Mann stand breit in finnischen Lederstiefeln, das starke Gesicht, aus dem eine Adlernase sprang, war von einem grauen Bart umrahmt, vom Schädel troff graues Gelock. Ein paar Hände hingen still, die waren so, als ob sie im Kampf mit dieser Urwelt im Wachsen schrundig und rauh geworden wären, Hände mit einem Griff wie Stahl. Der Mann sprach ein paar finnische Worte und lud uns mit einer Bewegung ein, ins Haus zu treten. Drinnen war eine ganz flache Stube, fast zur Hälfte von einem gewaltigen Ofen ausgefüllt, der, aus klobigen Steinen aufgeschichtet, alles in einem war, Heiz-, Koch- und Backofen, Schlafstätte in unglaublich rauhen und unvorstellbar kalten Wintermonden, Trockenboden für immer nasse Kleider, nasses Lederzeug und Wäsche. Auch jetzt dampfte es, dieses Ungeheuer, strahlte wohlige Wärme aus seinen granitenen Blöcken, ein wundersames Untier, die Wohltat dieses höchsten Nordens, der wahrhafte Herd der Urzeit, uralt, wie es schien, und doch erst vor wenigen Monden von diesen Händen aus Stahl, geschichtet. Wir standen kaum und staunten in diesem wohltuend warmen Raum, in dem sich Holz und Stein so heimisch zusammenfanden — da trat der Mann unter  uns, drückte uns einzeln mit seinen Pranken auf die Bänke, während das gebeugte Mütterchen scheu ein paar Scheite in das Feuer schob und die Türe sich füllte mit jungen Gestalten. Da straffte sich der Mann ein wenig und rief ein paar Worte, scharf und metallisch, auf die alles auseinanderstob, auch das Mütterchen gebückt hinaushuschte; und dann kam eins nach dem andern wieder mit ein paar Rentierfellen, mit einem Bärenfell, mit wollenen Decken. Der Mann befahl und alles wurde ausgebreitet zu einer riesigen Lagerstatt. Nun wussten wir, dass wir zu Gast genommen seien, nach dem uralten Gesetz der Wildnis, wo alles Geschöpf aufeinander angewiesen ist und zueinander steht. Im Boot schon war uns die Frage gekommen: wo sind wir? Ich holte jetzt die zerknitterte Karte aus der Tasche, breitete sie auf den Boden, winkte den Mann heran, beschrieb auf dem Papier einen Kreis und fragte: „Suomi?“ Er nickte. Natürlich, wir mussten noch in Finnland sein, denn der Grenzfluss war noch nicht überschritten. Wir kehrten uns wieder zur Karte, ich zeigte ein paar winzige Kreise: Petsamo, Ivalo und dann indem ich ihn fragend ansah, Kultala. Der Mann zuckte mit den Schultern. Ich machte eine Geste um die Stube und fragte weiter. Der Mann lachte und sagte: Pulju, deutete durch die offene Tür, durch die der See schimmerte: Puljujärvi, und dann noch einmal: Pulju. Und alle Burschen nickten einander heiter zu und wiederholten im Chor: Pulju, Pulju. Der Mann winkte einen der Jungen aus der Tür herbei, nahm mir Bleistift und Papier aus der Hand und der Junge schrieb fünf Buchstaben hin: Pulju. Wir sollten es genau wissen. Die umständliche und zeremonielle Art, mit der hier dieser einsame Häuserhaufen mitten in Lappland uns seine Karte abgab, zauberte mit einem Male eine lustige Stimmung in den niederen Raum. Aus der Tür traten Burschen und Mädchen herein, dass das Gemach sich füllte, und man begann ein paar Scherzworte hin und her zu werfen. Dass wir Deutsche seien, war längst klar. Ich schrieb meinen Namen auf Papier und gab ihn dem Mann. Der wendete das Blättchen hin und her, lachte, deutete zulegt auf seine breite Kolonistenbrust und sagte: Ilmari Ruotsala. Welch merkwürdig klingender Name: Ruotsala. Er war verschlossen und geheimnis­voll wie jener andere, der so tiefe Bedeutung für unser Leben bekommen hat: Kultala, das heißt Goldwäscherdorf. Aber Ilmari unterbrach das vergnügte Scherzen und neugierige Staunen seiner Sippe, hämmerte wieder ein paar Befehle, und das ganze Jungvolk stob eilig zur Tür hinaus. Ilmari war der Herrscher hierzulande, und

jedes Wort, das er sprach, war ein Befehl. Er nahm jetzt einen von uns, den Jüngsten, väterlich beim Kragen und stauchte ihn sacht aufs dunkle Bärenfell, dass er wohlig seine Knochen reckte und sich knurrend in den dicken Pelz vergrub. Im Nu lagen wir alle aufgereiht, Mann an Mann nebeneinander in der Stube, reckten und dehnten uns und genossen zum ersten Mal, wie uns schien, nach unvorstellbar langer Zeit das völlige Gelöstsein von aller Pflicht und Not, von allem Zwang. Wir brauchten kein Ziel mehr, das zu jagen sei, keinen Willen, der sich spannte, keine Augen, die sich in die Ferne bohrten, es gab kein Muss mehr. Einer summte vor sich hin, und es schien, als ob dieses Summen aus den Stämmen kam, aus denen das Haus geschichtet war und die sich noch des letzten Herbstes erinnerten, als irgendwo, wer weiß wo in Finnland, der Nord durch ihre Äste strich. Von draußen schien jetzt hell die Sonne und spielte in Ringen auf dem Gebälk, brachte das Harz der Fichten zum Leuchten, als ob es Bernstein wäre, und streifte das helle Haar des Mädchens, das eilig mit einem Stoß flacher Brote in die Stube trat. Sie waren alle auf eine Stange gezogen und wurden nun mit einer leichten Gebärde auf den Tisch gestreift, der wuchtig im Ofenwinkel stand. Ich spürte, wie zwölf Köpfe in die Höhe fuhren, zwölf Burschen sich auf ihre Fäuste stützen, zwölf Augenpaare zum Tisch hinüberstarrten. Plötzlich war wieder eine unheimliche Spannung im Raum, mit einem Male war alles wieder da, dieses trockene würgende Gefühl im Hals, diese nagende Leere im Leib, der Hunger. Wie ein Blitz durchzuckte mich die Gefahr, die aus diesen Augen starrte, und ich begriff, dass die letzte Probe gekommen war, die letzte Prüfung für Ruhe, Geduld, Gehorsam. Wenn sie jetzt wie hungrige Tiere auf diesen Tisch stürzten — es war kaum auszudenken. Der Junge kam mit einer gewaltigen Holzschüssel voll gesalzener Fische, eine junge Frau mit einer riesigen Satte saurer Milch, und als ich hinaussah ins Freie, bemerkte ich, wie aus einer Erdhöhle zwei, drei, vier Ge­stalten krochen, die trugen abermals Brot, Butter, Fisch und saure Milch. Dies alles türmte sich auf dem schwe­ren Tisch zu einem gewaltigen Festmahl, zur herrlich­sten Tafel gewiss unseres Lebens. Dies war das dunkel­braune Brot, die helle goldene Milch derselben Erde, aus der die Stämme dieses Hauses, die Steine dieses Herdes gewachsen waren. Und alles war die Kraft die­ses nördlichsten Landes, in der wir mählich, deutlich spürbar jedem, wieder hinaufwuchsen zu dem, was wir gewesen, und noch höher hinauf über die ganze harte Erfahrung der vergangenen Wochen zu noch härterem.

Dann stand einer auf, langsam und schwer, der längste von allen, fast bis zur Balkendecke reichend, und ging scheu und zuckend auf diesen Tisch zu. Noch einer folgte, ein dritter, und als Ilmari laut wie Peitschen­knall in die Hände schlug und ermunternd zu Tisch drängte, war alles auf den Beinen und im Begriff los­zustürzen auf diesen ganzen unendlichen Reichtum, wie eine Herde hungriger Wölfe, mit seinen Fäusten zu zerreißen, zwischen den Zähnen hart zu mahlen und dann zu schlingen, nur zu schlingen, sinnlos und ganz von Sinnen. Es wäre entsetzlich geworden, unausdenkbar. Ich sprang vor den Tisch, stellte mich breit hin, deckte mit beiden Händen wie beschwörend alles, was hinter mir lag und hatte vor mir die knurrende Meute der Zwölf, die schon anfing, sich zu drängen, zu schieben und durchzubrechen, als ob ihnen hier ein Tor, die letzte Ausflucht verrammelt würde. Ilmari stand ratlos und wusste nicht, was geschah, die Frau drückte sich scheu durch die Tür, es war eine Stille im Raum, dass man das Feuer im Herd und den Wind ums Haus hö­ren konnte.

„Jetzt müsst ihr eine kurze Weile noch still und ruhig bleiben. Solang habt ihr durchgestanden. Wenn jetzt nach dem entsetzlichen Hunger gefressen wird, ist es furchtbar. Ihr müsst es ganz langsam tun, das Essen. Vorsichtig und gut mahlen. Wir dürfen jetzt nicht krank werden. Es hängt alles davon ab, dass ihr nun euren Mann steht. Kurt, nimm das Messer, schneide Brot! Gerhard, nimm dieses Messer, streich das Brot! So, und ihr andern, haltet die Becher. Jeder bekommt je einen halben Becher Milch. Alles stehenlassen. Ihr müsst noch eine kleine Minute warten. Alle fangen gemeinsam an.“ Die Burschen standen etwas ratlos, aber doch willig mit einem Male. Sie standen leicht gebeugt, es war die Hal­tung des stummen Gehorsams. Alles schien gut zu gehen. Sie formten ganz von selbst einen weiten Halbkreis vor dem Tisch. Dazwischen war ein leerer Raum. Dann bekam jeder das Seine, einen Becher mit Milch, ein Stück dunkelbraunes Knäckebrot, und so erlebten sie diesen unvergesslichen Augenblick, dass ihre Zähne wieder Brot mahlten und die säuerliche Milch ihren Mund erfrischte. Hätten sie jemals vordem ahnen können, wie tief, bis in die legten Wurzeln, dergleichen einfaches Geschehen gehen kann!

Dann mussten sich alle hinlegen, und sie waren schon willig geworden wie Kinder. Dort lagen sie nun, mit einem frohen Glanz um die Augen, wortlos und begriffen jetzt erst recht, was an Entbehrung und Qual hinter ihnen lag. Nach einer Stunde durften sie wieder aufstehen. Bänke wurden um die Tische gebaut, man setzte sich, und jeder war jetzt so entspannt, dass man sie getrost sich selbst überlassen konnte. Es war nur ein stummes Mahlen, das jeden innerlich so packte, dass ihm die Rede verging; aber es wurde doch mit Überlegung eingenommen, und selbst die kleinen Dinge der Tischsitte und Gemeinschaft wurden nicht vergessen. Ilmari ging indessen von Mann zu Mann, stellte sich breitspurig hinter jeden und strahlte vor fröhlichem Stolz. Es schien ihm wie ein Geschenk zu sein, wie eine nochmalige Weihe seines neuen Hauses, dass diese dreizehn Fremden bei ihr Herberge gefunden hatten. Und wieder lagen wir alle auf unseren Fellen, die Sonne schien schräg durch die kleinen Fenster, Frau und Mädchen räumten still die Stube aus, einmal flackerte hell das Feuer im offenen Herd, Funken knisterten auf von frischen Scheiten, der Wind sang im Kamin, es wurde still um uns. Ilmari trat noch einmal in die Tür, nickte zufrieden und ging. Dann geschah noch etwas Merkwürdiges. Mari, die jüngste Tochter von etwa sechzehn Jahren, kam auf Zehenspitzen in den Raum und setzte sich still mit gefalteten Händen auf einen Schemel in die Stubenecke, gerade uns gegenüber. Sie konnte uns allen ins Gesicht schauen. Und wenn wir wohlig durch unsere kaum geöffneten Lider hinüber sahen, erschien sie uns allen täglichen Dingen so entwöhnten Burschen wie eine erste zaghafte Begegnung wieder mit der Welt, in der wir leise tasteten, von der wir uns still führen ließen, zurück ins Dasein der schönen und warmen Dinge. Sie schien uns wie ein Unterpfand der wiedergewonnenen Welt. Bald kamen einzelne schwere Atemzüge aus der lagernden Gruppe. Der Schlaf übermannte erst den einen, dann den Nachbarn, und dann lagen alle wie gelöst, die Hände unter dem Kopf gefaltet, ganz verfallen der tiefen verwandelnden Kraft des Schlafes. In mir selbst flackerte noch einmal das Wissen auf von der schweren Verantwortung, die tagelang um die Zwölf auf mir gelastet hatte. Ich sah gerade noch, wie Mari auf leisen Zehenspitzen den Raum verließ, hörte das einzig wohltuende leise Brummen einer Kuh am Fenster und war hinüber.

So lebten wir drei Tage im Haus des Ilmari Ruotsala, bauten langsam unsere Kräfte wieder auf, schnupperten vor der Haustür herum nach dem See zu, tranken die ewig wechselnden, in ihrer nordischen Reinheit unendlich zarten und eindringlichen Farben des weitgespannten Himmels, verirrten uns gelegentlich mit einem Blick nach Norden, wo im Faltenwurf flacher Hügel jene Düne sich versteckte, von der wir Pulju entdeckt und den Weg zurückgefunden hatten. Am vierten Tage früh, als die Sonne den See in die Pracht schimmernden, blitzenden, blendenden schieren Silbers verwandelte, dessen Licht sich in den Scheiben unserer Stube brach, als wir uns gerade reckten und wohlig durch die offene Tür die frische Frühe in uns sogen, kamen schwere Schritte über den Fluss. Ilmari und die beiden jungen Männer kamen lachend herein und warfen Riesenbündel frischen Birkenreisigs auf den Boden. Ilmari aber rief: Sauna, Sauna! Das war wie ein heller Schlag, von dem wir alle in die Höhe fuhren. Es klang wie ein Zau­berwort, Sauna, wie ein Urwort, in dem Geheimnisse steckten. Es jagte uns alle auf die Beine, und dann be­gann das fröhlichste Tun. Jeder bekam einen Haufen Birkenreisig, schnitt die Zweige zu, band sie zu frischen grünen Rutenbündeln, bis es dreizehn waren. Dann pfiff Ilmari durch die Zähne und hieß uns folgen. Zwischen Haus und See wuchs aus dem grünen Anger das win­zige Blockhaus, grau und verbraucht schon, das Dach bemoost, die Sauna. Sie qualmte und prustete vor lau­ter Rauch, als ob sie noch nie mit solcher Freude die Steine zum Glühen gebracht hätte, die auf das zischende Wasser warteten. Das schleppten Ilmaris Söhne nun heran, gossen es über den Steinhaufen mitten in der Sauna, dass der weiße glühende Wasserdampf den klei­nen niederen Raum wie mit undurchdringlichem heißen Nebel füllte. Wir stürzten uns hinein wie in ein hei­lendes Moor, die Blocktür wurde hinter uns zugeschla­gen, und dann war uns, als ob der glühende Brodem die Lungen verbrenne. Einige stöhnten, alle sackten leise und schwach in die Knie, krochen auf den Boden, wo der Dampf erträglicher war. So wie die Lungen sich allmählich an das heiße brauende Gewölk gewöhnten, hob einer nach dem andern sich wieder aufrecht, dehnte sich, und plötzlich ergriff einer die grüne Rute und be­gann den Nachbarn wie mit einer Peitsche des Lebens zu schlagen, als ob er alles Modrige, Müde, Vergiftete ausstäupen wolle. Alle fingen Feuer, und es schallte ein heiteres Lachen durch den engen Raum, wo einer den andern nahe bedrängte. Jeder schlug jeden. Es war ein Fest der grünen Peitschen. Man musste das alles wohl von draußen mit heiterer Teilnahme gehört und miterlebt haben, denn plötzlich öffnete sich die Tür und Eimer nach Eimer eiskalten Wassers flog durch die Öffnung, dass alle fast erschraken, tief atmeten und hinaus­stürzten ins Freie. Wir waren rot wie Krebse von der Hitze und den Hieben und tummelten uns wie eine Kop­pel junger Fohlen auf dem Anger zum See hinunter, schlugen Räder, liefen auf den Händen. Wir waren toll vor wiedergewonnener Kraft und neuem Lebensmut. Wahrhaftig, die Sauna hatte ein Wunder an uns getan! Nie soll es ihr vergessen sein! Damit waren die stärkenden und aufmunternden Tage in Pulju zu Ende. Es hielt uns nicht länger, soviel Rüh­rendes und Herzerquickendes diese urbäuerliche Gast­freundschaft der Ruotsalas gegenüber uns Fremden auch hatte, wir durften sie nicht länger genießen wollen, als die Not gebot, denn karg und schmal war der Lebens­raum, auf dem Ilmaris Sippe hier bestehen musste! Zwar der See gab Fische im Überfluss, aber mit dem übrigen war es mager bestellt. Pulju gehört, wenn man die Karte befragt, schon in den Polarkreis. Der kurze nordische Sommer spendet spärlich Gras, von dem sich durch die langen, schier endlosen Wintermonde nur wenig Kühe halten lassen, sechs oder sieben. Und doch sind die Kühe unentbehrlich neben dem Fisch. Und was gibts dann noch? Ein Äckerlein Kartoffeln und ein Ger­stenfeld, in das oft genug noch vor dem Schnitt der erste Schnee fällt. Da werden dann die flachen Brote, die aufgereiht an der Stange hängen, gezählt und die klei­nen Kartoffeln ängstlich bemessen. So mag es vor ein paar tausend Jahren in allen nordischen Ländern gewesen sein und bei aller Armut, ja weil jeder Norde die Not vom eigenen Leibe kannte, wurde nichts so gern gegeben wie Rast und Wegzehrung für den Fremden, der Frieden brachte. Am Morgen nach der denkwürdigen Sauna brachen wir auf nach Südwesten. Ein schattiger Wald tat sich auf, und mitten im Gelände begann plötzlich ein Weg. Wir waren der Wege und Stege seit Wochen entwöhnt, und so erlebten wir diesen Weg als eine Rune, die der Mensch in die Landschaft geschrieben hatte, als ein Mal und Zeichen menschlichen Schaffens. So wie einst der letzte Weg sich bei Ivalo im Kraut verflüchtigte, die letzten Spuren mit ihm, so spannte sich nun der Faden nach langer Pause wieder weiter, zunächst dünn und einsam, der wieder hineinführte in das dichte, so wohl vertraute Lebensgewebe, von dem wir eine Weile Ab­schied genommen hatten. Ein Weg! Es gab wieder Spuren von Menschen, Pferden und Karren. Wir marschierten Stunden. Der Baumwuchs, Tannen und Bir­ken, wurde dichter, lockerte sich wieder zur Waldsteppe und schloss sich schließlich zu dichtem, wirklichem Wald zusammen, zwischen dem einsam und fast gradlinig unser Weg gen Südwesten führte. Mit einem Male hörten wir Stimmen, und dann traten drei mit Axt und Säge ausgerüstete Männer zwischen den Stämmen heraus, die mit Staunen unsere langge­zogene Kolonne wahrnahmen. Wir entpuppten uns als Deutsche. Dies wurde heiter und mit Lachen aufgenommen und mit einem lebhaften Wortwechsel der drei begleitet, von dem wir nur so viel verstanden, dass es nicht weit von hier einen Mann gäbe, der spräche sehr gut Deutsch und zu dem sie uns den Weg weisen woll­ten. Das war ja nun eine wunderbare Entdeckung, und unsere Spannung war groß. Bald öffnete sich die Sicht auf eine weite ebene Grasfläche, aus der nur wenig Bäume ragten und die in geringer Ferne abgeschlossen wurde durch ein Ufergebüsch, hinter dem manchmal die spritzenden Wellenköpfe des Flusses blitzten. Das sei der Muoniojoki sagten die Männer. Hier also hatte unser Marsch durch Finnisch-Lappmarken ein Ende, jen­seits des Flusses lag Schweden! Dann schälten sich die Umrisse einiger zerstreuter Block­häuser aus der Landschaft und wir begriffen, dass wir uns einem Holzlager näherten, das die Hölzer dieser nordwestlichen Waldzone über den Muoniojoki nach der Ostsee verfrachtete. Ehe die Männer sich zur Rech­ten wendeten, zeigten sie uns links ein alleinstehendes Holzhaus in schwedischem Stil, rot gestrichen, mit Fen­stern, die vergoldet schienen von der Abendsonne, in­mitten eines Kranzes leuchtender Farben. Da wohne Montell, sagten sie und wünschten Guten Abend. Je mehr wir uns dem roten Haus näherten, umso grö­ßer wurde unser Staunen. Das Haus schloss mit einer hohen gläsernen Apsis ab, ein Chor in Glas, in dem rot und golden die späte Sonne brannte. Um das Haus aber breiteten sich weit und üppig angelegte Beete mit japanischem Mohn, die in allen Tönen von Gold bis Rot leuchteten. Wir waren sprachlos. Inmitten dieser hochnordischen Einsamkeit, wo nur des Lebens Not­durft wuchs, erstand plötzlich vor uns eine winzige Insel Märchenland mit südlichen Sommerblumen und einem leckeren farbenfrohen Häuslein, in dem also Montell zu suchen sei. Heiter und aufgeräumt schritten wir dar­auf los, sahen zur Rechten den breiten, munter strömen­den Fluss und bemerkten die Böschung erkletternd einen weißhaarigen Mann, der etwas Schweres, Hängendes in der Rechten trug. Das musste Montell sein und wir grüßten ihn von weitem mit einem lauten vielstimmigen Guten Abend. Er blieb eine Weile, offenbar erstaunt, auf dem Flecke stehen, legte die Linke über die Augen und kam dann mit schnellen Schritten näher. Er strahlte und rief: „Deutsche hier im Land!“ „Ja“, sagte ich und konnte ihm schon die Rechte drüc­ken. „Wir kommen vom Pasvik herüber.“ „Vom Pasvik? Und die Mücken haben Sie nicht aufge­fressen?“ „Sie haben ihr Bestes getan, Forstmeister, aber Sie se­hen, wir haben es ganz gut überstanden.“ „Ja, ja, die Deutschen sind nicht klein zu kriegen. Kom­men Sie näher. Sie sind meine Gäste.“

In der Linken hielt er jetzt etwas Schweres, Triefendes hoch, es war ein Fischadler. „Der arme Kerl hat sich gerade drunten in meinem Nee gefangen. Er stieß nach Fischen im Netz. Sein Irr­tum ist ihm schlecht bekommen. Was kann man da ma­chen. Wir müssen ihn abbalgen, dann will ich ihn aus­stopfen für Abo.“

Wir traten in das rote Haus, warfen einen Blick in die winzige Küche, wo eine alte gebückte Frau, die Haus­hälterin, mit Fischen wirtschaftete, wurden durch einen Raum geführt, wo zahllose Bilder und Fotos aus aller Welt, Deutschland, Italien, die Wände bevölkerten und kamen dann in jenen merkwürdigen gläsernen Chor, der uns schon von draußen so sehr verwundert hatte. Später erfuhren wir seine Geschichte. Zunächst aber mussten wir die unsere erzählen, und Montell konnte uns nicht oft genug in bestem Deutsch seine Freude sagen, dass ein so einzigartiger deutscher Besuch ihn hier in seiner völligen Einsamkeit überraschte. Er war ein Mann in den Sechzigern und berichtete auf unsere Fragen, dass er vor vierzig Jahren in Deutschland, in München, vor allem Kunstgeschichte studiert habe und dass er am liebsten sein ganzes Lagen in Deutschland verbracht hätte, wenn ihn nicht eines Tages besondere Familienumstände nach Finnland zurückgerufen hätten. Dort ging er zur Forstwissenschaft und schließlich zur Forstpraxis über, betreute nun seit dreißig Jahren diesen fernen äußersten nordwestlichen Waldbezirk Finnlands unter mancherlei wechselnden Schicksalen dieses Landes. Als er vor dreißig Jahren über Deutschland nach Italien kam, hatte er eine Hand voll Palmensamen mitgebracht als Erinnerung an die südliche Erde, sie hier im höchsten Norden wiederum der Erde anvertraut. Und siehe da, unter seiner pflegenden Hand und ge­schützt durch die Wärme des Hauses gediehen sie zu Pflänzchen und Pflanzen. Und nun füllten sie, aus rie­sigen Bottichen voll nordischer Erde ihre Nahrung neh­mend, die hohe Glashalle dieses merkwürdigsten aller Chöre bis an die höchsten Winkel mit den breiten Flä­chen ihrer mächtigen gefiederten Blätter. Welch merk­würdiges Menschenschicksal verbarg sich hinter der Sonderbarkeit dieses gläsernen Raumes. Zu Füßen des klei­nen Palmenwaldes breitete sich ein gewaltiges Ruhe­polster, das samt seiner Rückenlehne bedeckt war mit einer riesigen in Wolle gewebten Fahne, die auf gold­gelbem Grund ein rotes Kreuz trug.

„Das ist die eigentliche, die alte Fahne Finnlands“, sagte der Forstmeister und wir spürten, dass auch in dieser einfachen Aussage ein Stück persönlichen und geschichtlichen Schicksals ausgesprochen wurde.

Es gab keine Stühle für diese unerwartet große Schar, die plötzlich das Haus bevölkerte, und so blieb nur die ehrwürdige finnische Fahne, auf die wir uns niederhockten, um Montell von Deutschland zu erzählen. Er konnte nicht genug hören und hatte immer wieder ge­naue Fragen, die wie aus einer großen Ferne kamen. Er lebte einsam und abgeschieden von den Dingen, und jenes Deutschland, an das er sich lebendig erinnerte, das seine Jugend erfüllt hatte und so zum Stoff seines Lebens geworden war, lag weit zurück wie die längst ver­lassenen Ufer eines Stromes, den man abwärts treibt, unwiederbringlich verlorene Gestade, deren Wirklich­keit und Nähe nur durch die Kraft der Erinnerung dem Geistigen unverlierbar bleibt. So beschritt Montell, den wie Pfaden unserer Erzählung folgend, noch einmal die Landschaft der Deutschen, erkundete abermals durch die Herzen der Fremden und doch in Sprache, Seele und Empfindung so vertrauten Gäste den Raum seiner Ju­gend. Es schien ihm als einzigartiges Glück seiner alten Jahre, dass er auf diese merkwürdige Weise noch mal angerührt wurde, ganz lebhaft und greifbar in Gestalt dieser deutschen Schar, von dem, was ihm einst eine starke Erfüllung gewesen war und ihn Zeit seines Lebens insgeheim gefesselt hielt.

Nach dem Essen wurden herüber und hinüber merk­würdige Geschichten erzählt. Mittendrin zeigte Montell seine Herbarien, seine Eiersammlungen, die er in uner­müdlichem Eifer dem Schicksalsraum seiner zweiten Lebenshälfte abgerungen hatte. Es steckte eine eigenartige und bewusst gelenkte Leidenschaft in diesem Be­mühen, die völlige Einsamkeit in diesem Lande durch die genaue Erarbeitung seiner Pflanzen- und Tierwelt, die strenge und lückenlose Ordnung seiner Blumen, Gräser und Vögel in mannigfaltige Lebendigkeit zu übersetzen. Große Sammlungen schon hatte er der Hoch­schule in Abo überwiesen und gestiftet, und immer noch wuchs dieser Sammlungsbaum mit tausend und aber tausend vergilbten Blättern und Blüten, wuchs das Ar­chiv seines Fleißes unter behutsamen und sicheren Hän­den scheinbar ins Unermessliche weiter.

Montell erzählte auch von seinem weitverzweigten Ver­kehr mit Menschen ähnlicher Art über die ganze Erde verstreut, die wie Sende- und Empfangsstationen mit ihm in Verbindung standen, um Briefe, Gedanken und Merkwürdigkeiten auszutauschen. Und wie er so er­zählte, fiel mir plötzlich unter dem Palmendach dieser arktischen Oase eine Begegnung ein, die ein paar Jahre zurücklag, als ich weit von hier in einem fremden und gänzlich anderem Lande die Spuren eines Mannes traf, und verfolgte, dem auch sein Schicksal vorgeschrieben hatte, das Land seiner Jugend, Deutschland, zu ver­lassen, um sich ganz in der Ferne eine winzige Welt aufzubauen, in der es auch Kräuter und Herbarien gab, Heilpflanzen und merkwürdige uralte Rezepte. Das war in Mexiko gewesen, und der Mann hieß Professor Pur­pus. Die Erinnerung an diese eigenartige Begegnung wurde plötzlich so lebendig in mir, dass ich Montell unterbrechen musste und sagte: „Wenn Sie davon erzäh­len, Forstmeister, fällt mir ein Erlebnis ein, das ich vor Jahren mit einem Mann in Mexiko hatte …“ Montell sprang auf, packte mich an beiden Schultern, sah mich mit merkwürdig strengen Augen an und rief nur: „Purpus, Sie sprechen von Purpus!“ „Natürlich, aber wie um alles kommen Sie darauf?“ „Sie können in Mexiko nur einen Mann getroffen ha­ben, der hierher gehört in das Gespräch, nur einen gro­ßen deutschen Sammler, und das ist Purpus. Seit fünf­zehn Jahren stehe ich mit ihm im Austausch der Gedan­ken und Ergebnisse.“

„Dann kennen Sie auch seine Arbeit über Mexikos Heil­pflanzen.“ „Ich kenne sie genau, sie sind in Berkeley erschienen. Ich habe oft an dieser Handschrift und an diesem Le­ben herumgerätselt. Ich weiß nichts. Es ist ungeheuer, dass Sie diesen Mann gesehen haben. Sie kennen ihn. Sie haben mit ihm zusammen gesessen, mit ihm gespro­chen? Erzählen Sie von Purpus.“

Dann berichtete ich von diesem sonderbaren kleinen Mann, der etwas gemein hatte mit jenen merkwürdi­gen Darstellungen weltfremder Professoren, die wir aus alten Karikaturen kennen. Der als junger Dozent von einer deutschen Universität zu Pflanzenstudien in die Rocky Mountains geschickt wurde, den drüben die Weite, Frische und Unberührtheit des jungen Erdteils packte und nicht wieder losließ, der sich langsam hinunterarbeitete bis in die mexikanischen Sierras und sich dann für die Zeit seines Lebens in Mexiko festbiss, auf den einen Gegenstand gesammelt: die Pflanzenwelt und insbesondere die Heilpflanzen dieses Landes und die uralte Pflanzenmedizin der Indianer zu erforschen, und zulegt erzählte ich die Geschichte meiner Begegnung mit Purpus und das wahrscheinlich merkwürdigste und ganz gewiss das aufregendste Erlebnis seines sonst so stillen und einsamen Gelehrtendaseins — die Geschichte von Purpus und seinen vierzig Katzen.

Montell hörte in höchster Spannung ohne Frage und Zwischenrufe meinem Bericht zu, der mit einem Male den entfernten und fremden Menschen, mit dem ihn nur Geschriebenes bisher verbunden hatte, ganz in die Nähe zauberte. Es war, als läge Purpus neben uns in seinem eisernen verbogenen Feldbett unter der blaugewürfelten sauberen Decke, den gebräunten gespaltenen Arm dem kräftigen heilenden Sonnenlicht preisgegeben, so wie ich ihn damals erlebt hatte, als ich in die kleine Kammer der hacienda La Esperanza trat. „Merkwürdig“, sagte Montell, „wie klein diese Erde wird, wenn unser Geist im gemeinsamen Erlebnis die gewaltige Weite zusammenzwingt zu einem Punkt, in dem wir dann plötzlich, die schier endlos weit entfern­ten, zusammenstehen.“

Die helle nordische Nacht schimmerte durch die hohen gläsernen Flächen des merkwürdigen Gehäuses, in dem wir hockten. Durch die offene Tür kam etwas Wind herein und strich durch die Blätterwedel der Palmen. Das Gold der altfinnischen Fahne leuchtete kräftiger als am Tage, der weißhaarige Kopf Montells war ein natürlicher Mittelpunkt der Gruppe, die um mich hockte und still die Geschichte hörte, die mit einem Mal diesen fernsten Winkel des höchsten Nordens mit dem entlegensten Orte des tropischen Mexiko verknüpfte.

Am andern Morgen, in aller Frühe, als noch Nebel über die Wasser des Muoniojoki strich, flitzten wir in zwei Booten über nach der schwedischen Seite und sahen noch lange, während der Nebel das Ufer schon verhüllte, wie losgelöst von den Dingen über dem Nebel schwe­bend, allein den weißen Kopf Montells mit beschatteten Augen, die uns nachsahen, bis der weiße Schleier uns trennte. Jede menschliche Begegnung, wenn sie uns angeht, ist wie ein Knoten, der sich schürzt und unverlierbar wie ein Gewebe eingeht, in welchem es viele so geschürzte Knoten gibt, und alle haben einen geheimen Kontakt. Am Ende nach vielen Jahren ist es ein weitmaschiges Netz, das unser persönliches Schicksal mit tausend an­deren Schicksalen rund um die Erde verbindet und immer wirksamer verbindet, auch wenn wir nicht daran denken. Aber doch eine der merkwürdigsten Fügungen ward mir jenes Zusammentreffen mit Purpus drüben in Mexiko und mit seinem Antipoden Montell hier dro­ben in Lappland, die sich seit fünfzehn Jahren gekannt und die sich nie gesehen haben, und deren verlorene Einsamkeiten plötzlich durch mein Dazwischentreten ver­bunden wurden. Der Vorhang schloss sich vor Lappland, das nun hinter uns lag wie ein Drama, von uns selbst gewollt, geschrieben und gespielt, auf einer Bühne, die unendlich mächtiger ist als wir alle, weil sie ewig ist, so lange diese Erde steht, die Bühne aus Wasser, Stein und Gras und über ihr gespannt ein Himmel, vor dem endlos, in unübersehbare Formen verzaubert, Wolken stehen. Wir wandten uns über dem Kiel des Bootes dem neuen Ufer zu, das nun in klarer Morgensonne sich vor uns wie eine neue Welt aus letzten Nebelschleiern klar gestaltete.