Adolf Reichwein – Indianer lehren uns  signalisieren

Noch nicht hundert Jahre ist es her, da saß ein junger Assi­stenzarzt fern im einsamen, weiten Neu-Mexiko vor sei­nem Zelt und beobachtete eine Gruppe von Indianern vom Stamme der Comanchen, die sich in einem jener Kriegsspiele übten, die zum tägli­chen Dasein der kriegerischen Stämme gehörten. Der junge Arzt war Dr. Albert James Myer, wie der Name sagt, Ab­kömmling einer aus Deutsch­land eingewanderten Familie und soeben frisch von der Hochschule gekommen, wo er seinen Grad mit einer Arbeit erworben hatte, die den Titel trug: Eine Zeichensprache für Taubstumme.

Myer, ein früherer Telegraphenlehrling, hatte später Medizin studiert und war so, aus dieser doppelten Be­rufserfahrung, an den Schnittpunkt des Problems gera­ten, das ihn nun beschäftigte. Es war Sommer 1851, als er in der neu-mexikanischen Prärie jene Gruppe der In­dianer beäugte, die durch das Schwenken ihrer Lanzen einer anderen Gruppe, die mit im Spiele war und eine benachbarte Höhe besetzt hatte, Zeichen gab. Blitzartig kam ihm der Gedanke, dass man solche Bewegungen für die Verbindung benachbarter Militärposten oder für die Abteilungen einer operierenden Armee ausspähen könne. Dieser Gedanke ergriff so stark Besitz von dem jungen Arzt, dass er alle verfügbare Freizeit dieser Entdeckung widmete und schließlich ein System von Zeichen ent­warf, das die Grundlage für den Code wurde, der spä­ter im Kriege Verwendung fand.

Myer kam in den Osten der Vereinigten Staaten, er­klärte sein System den vorgesetzten Dienststellen und ließ seine Erfindung patentieren, eine Möglichkeit er­greifend, von der die Indianer sich nie etwas hatten träumen lassen. Myer wurde damit zum Erfinder und Begründer des späteren Systems der Heeres- und Flottensignale mit Flaggen, das sich als so einfach und wir­kungsvoll erwies, dass es von fast allen Ländern und Völkern angenommen worden ist. Vom Heer wanderte es dann zu den Pfadfindern und wurde so zu einer auch der Jugend gemeinverständlichen Sprache.

Die Zeichensprache der Indianer ist ein Kind der Prärie. Sie wurde geboren aus der Notwendigkeit, die Mehrsprachigkeit nomadisierender Völker und Stämme zu überwinden. Da, wo das stammes – und volksgebunde Wort versagte, entwickelte sie sich als eine zwischenstammische Sprache. Von den Uranfängen mensch­licher Verständigung her gesehen, ist die Zeichensprache als eine ursprünglich allgemein verbreitete Praxis anzu­sprechen, die dem Bedürfnis entsprang, Gedanken durch Zeichen und Gesten auszudrücken oder zu unterstrei­chen. So wie die Schrift ursprünglich eine Bilderschrift gewesen ist, so war auch die urtümlichste Sprache der Zeichen und Gesten an die Darstellung von Naturbildern oder Natursymbolen gebunden.

Während im Osten und Norden des amerikanischen Kontinents die zwischenstämmische Zeichensprache durch die Gemeinsprache der großen Völkergruppen der Irokesen und Algonkin — uns allen wohlbekannt aus den Indianergeschichten — abgelöst wurde, während im Westen, in Oregon, sich der Chinnokjargon, aus In­dianisch, Englisch und Französisch gemischt, als Ge­meinsprache entwickelte, hat sich unter den nomadisie­renden Indianern der Prärie, der offenen Grassteppe, die Zeichensprache als das allgemeine Verständigungsmittel am stärksten und reinsten erhalten und immer weiter verfeinert. Als das Pferd — Erbe der über Me­xiko einbrechenden Spanier — den Hund als Trans­portmittel bei den Prärieindianern verdrängte, wurde die Bewältigung größerer Entfernungen möglich und die Zeichensprache umso notwendiger. So entwickelte sie sich zwischen Missouri und Felsengebirge, zwischen dem Fraserfluss im Norden und dem Rio Grande im Süden auf einer Nord-Süd-Ausdehnung von über drei Tausend Kilometern, also unter den Stämmen, die rast­los den Büffelherden folgten, noch im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert zu immer neuen Formen. So vermittelten also die Indianer an der Schwelle unseres eigenen Zeitalters in hochgepflegter Form eine Zei­chensprache, die in tiefere historische Schichten zurückragt als das gesprochene Wort, und deren Elemente al­len Völkern rund um die Erde eigen waren.

Wie weit diese Gemeinsprachigkeit gediehen ist, wie gründlich aber auch die Elemente dieser Gemeinsprache in die tiefsten Schichten menschlicher Bewegungs- und Gestenbildung hineinragen, wird durch einen höchst merkwürdigen Zusammenhang belegt, der wahrhaft er­staunlich ist. Bei der Bestandsaufnahme der indiani­schen Zeichensprache stellte sich nämlich heraus, dass sie aufs nächste der allgemein verbreiteten Taubstummen­sprache verwandt ist. Ja, die Beziehung ist eigentlich noch eine engere. Die Zeichenbilder beider Sprachwelten stimmen bis in die Einzelzüge überein; sie unterscheiden sich nur in ihrem „Schreibstil“. Die Zeichen­sprache des Taubstummen ist für den Nahverkehr be­stimmt, die Zeichensprache des Indianers, wie jeden Steppenbewohners für den Fernverkehr entwickelt wor­den. Der freie Nomade also braucht eine große Körper­gestik, die Mitwirkung des ganzen Körpers, vor allem der Arme, er musste das zeichensprachliche Großbild entwickeln. Für den Nahverkehr der Taubstummen ge­nügte das zeichensprachliche Kleinbild, der Taubstumme kann sich mit der Hand- und Fingersprache begnügen. Umso merkwürdiger, angesichts dieser verschiedenen optischen Voraussetzungen, dass beide Zeichensprachen sich bis in die kleinsten Züge parallel, ja fast identisch entwickelt haben. Diese Merkwürdigkeit ist nur zu er­klären, wenn man annimmt, dass sich in beiden Fällen ein sehr frühes, ursprüngliches zeichensprachliches Gut erhalten und in beiden Fällen bis auf unsere Tage durchgesetzt hat. Der Indianer, den wir, wie sich inzwischen herausge­stellt hat, hier nur stellvertretend für den nomadisie­renden Jäger und Steppenbewohner nehmen können, entwickelt seine Gestensprache vor dem hellen Hinter­grund des Himmels. Wenn möglich, bezieht er Stellung auf einem erhöhten Punkte und signalisiert also ähnlich wie der spätere Heliograph, der nach seinem Vorbild entwickelt worden ist. Zum klaren Verständnis der in­dianischen Zeichen ist es noch notwendig zu wissen, dass es sich beim Indianer um eine Art Pantomimik handelt, unter vorherrschender Benutzung der Arme, zu deren Ausdrucksspiel — im Gegensatz zu den Taubstummen — selten die Finger hinzugezogen werden. Der Indianer benutzt auch, um die Deutlichkeit auf weite Entfernung zu verbessern, häufiger beide Hände und wiederholt das Zeichen des Öfteren, er ist bemüht, bei möglichst geschlossener Fingerhaltung die Hand ganz zu zeigen, Vorder- oder Rückseite. Er ist also, wenn er in Zeichen spricht, bemüht, möglichst große Flächen und möglichst große Bewegungen zu zeigen.

Das Zeichen für „Vogel“: der Indianer geht wie der Taubstumme aus vom Zeichen „Schwingen“ (Flügel). Hände bei gestreckten Fingern sich berührend, in glei­cher Höhe rechts und links vor den Schultern. Um die Bewegung der Schwingen nachzuahmen, werden die Hände gleichmäßig vorwärts-abwärts bewegt. Die Be­wegung wird wiederholt. Bei den Taubstummen hat das Zeichen folgende Kleinform angenommen: die rechte Hand wird nahe dem Munde mit dem Rücken nach oben gehalten, der Daumen weggestreckt, die anderen Finger sind geschlossen, die Bewegung ist die gleiche wie bei den Indianern.

Das Zeichen für „Truthahn“, der heute noch wild in Amerika vorkommt: der Indianer gibt zunächst das Zeichen für „Bart“ und dann das Vogelzeichen. Das vollzieht sich so: die rechte Hand wird dicht vor der Brust, Finger abwärts zeigend, unter das Kinn gehal­ten, leichtes Schütteln der Hand, die locker im Handge­lenk gehalten wird. Manchmal werden nicht alle Finger, sondern es wird nur der rechte Zeigefinger ausgestreckt. Der Taubstumme gibt ebenfalls das Zeichen für „Bart“ und das Vogelzeichen. Das Zeichen „Bart“ bildet er, indem er den rechten Zeigefinger auf den Nasenrücken legt, um den Truthahnbart anzudeuten. Das Schütteln der Finger, beziehungsweise des Zeigefingers kann er, da er auf nächste Entfernung spricht, sich sparen.

Das Zeichen für „Feuer“: der Indianer will sagen: Flamme! Er bewegt die rechte Hand bei nahezu ausge­strecktem Arm mit abwärtsgewendetem Rücken ziem­lich tief vor dem Körper: die Finger sind zum Teil ge­schlossen, so dass die Daumenmaus auf den Nägeln der drei ersten Finger ruht. Langsame Hebung der Hand bei aufwärts schnippenden und spreizenden Fingern (Flamme)! Die Bewegung wird wiederholt. Der Taub­stumme geht von der gleichen Handhaltung aus, zeigt aber von vornherein die Finger gestreckt und gespreizt. Wie beim Indianer hebende Hand und wellenartige Bewegung der Finger.

Das Zeichen für „Aufgegeben“: der Indianer macht eine wegwerfende Bewegung. Beide Hände Finger ge­schlossen, Rücken nach oben, werden knapp links vom Körper gezeigt, so dass die rechte etwas vor und etwas über der linken steht. Senken der Hände, Bewegung nach links und rückwärts, gleichzeitig werden die Fin­ger rasch gespreizt, so dass die rechte etwas vor und etwas über der linken steht. Senken der Hände, Bewe­gung nach links und rückwärts, gleichzeitig werden die Finger rasch gespreizt. Der Taubstumme gibt ein fast gleichlaufendes Zeichen nur mit dem Unterschied, dass er die Hände nicht seitlich des Körpers, sondern vor dem Körper hält und infolgedessen die Hände nicht links und rückwärts, sondern aufwärts und vorwärts bewegt. Der Unterschied ergibt sich zwingend: der In­dianer, auf Fernsicht eingestellt, muss die Hände frei vom Körper zeigen, damit sie sich vor dem hellen Hintergrund deutlich abheben, der Taubstumme kann auf diese Bedingung der Fernsicht verzichten und das Zei­chen vor dem Hintergrund des eigenen Körpers geben. Daraus ergibt sich zugleich, dass er die Hände nicht rück­wärts, sondern nur vorwärts bewegen kann. Der Taub­stumme schließt zur Verdeutlichung dieses Zeichen mit einer Zurücknahme der Hände ab.

Der Indianer brauchte aber für allergrößte Entfernun­gen, für die selbst die eben geschilderte Zeichensprache nicht ausreichte, ein Verständigungsmittel, und entwickelte also darüber hinaus eine Signalsprache, für die er sich der Spiegelreflexe und Rauchzeichen, der weithin sichtbaren Pferdebewegungen und des Schwenkens sei­ner großen wolle-gewebten Laken bediente. So weitete er also die Möglichkeit der Zeichensprache derart aus, dass etwa ein Späher, auf einer Höhe stehend, den Ka­meraden mit Bewegungen seines Pferdes auf weiteste Sicht Nachrichten über Wildbestände und Feinde, über Standort und Zahl vermitteln konnte. Auch eigene Ver­luste wurden im Kriege so den Nachbartruppen ange­zeigt, Rückzüge, Niederlagen und Erfolge.

Die Truppen der Vereinigten Staaten benutzten oft indianische Späher und Zeichendeuter, die dem weißen Kommandanten wiederum die Zeichen des ausgesandten Spähers übersetzten. So drang der weiße Mann allmäh­lich in die Geheimnisse der Zeichen- und Signal­sprache ein.

Einer der weißen Offiziere jener Zeit erzählt davon: „So wunderbar die Feststellung scheinen mag: an einem klaren Tage — und die meisten Tage auf der Prärie sind klar und heiter —, und wenn die Sonne die geeig­nete Stellung hat, wird mit einem Stück Glas, in der hohlen Hand gehalten, signalisiert. Die Reflexion der Sonnenstrahlen auf die Reihen der Kämpfer teilt die­sen in geheimnisvoller Weise die Wünsche des Häupt­lings mit. Ich stand einmal auf einer kleinen Höhe und übersah das Tal des Santa Platte. Da beobachtete ich vor mir zu Füßen den Drill von etwa hundert Kriegern durch einen Häuptling der Sioux, der auf einer gegen­überliegenden Höhe zu Pferde saß, etwa zweihundert Meter von seiner in der Ebene bewegten Truppe ent­fernt. Über eine halbe Stunde befehligte er den Drill, der an geschwindem Wechsel und Schnelligkeit der Be­wegung von keiner Kavallerie der Welt erreicht wer­den kann: Alles was ich sehen konnte, war eine gelegentliche Bewegung des rechten Armes. Der Häuptling erzählte mir später selbst, dass er ein Glas verwende. Der Signaldrill ist eine höchst strenge und heilig gehal­tene „Medizin“, deren Geheimnis zu lüften ihre Zerstö­rung bedeuten würde. Selbst die in die Stämme verhei­rateten und unter ihnen lebenden Weißen werden zu diesem Geheimnis nicht zugelassen. Ich habe mehrere von ihnen und auch Präriejäger befragt, sie konnten mir nicht mehr sagen, als dass ein solches Signalsystem allgemein im Gebrauch sei. In der Hoffnung, mit un­serem berühmten Signaloffizier Dr. A. J. Myer wetteifern zu können, versuchte ich Überredung und Bestechung der Indianer selbst, aber ich konnte nie auch nur einen Fingerzeig erwischen, der mir zum Ausgangs­punkt für ein brauchbares Signalsystem hätte werden können. Sie geben zu, dass sie ein Glas benutzen, und das ist alles.“

Der „Eiserne Falke“ fasste alles in die schlichten Worte zusammen: „Gott hat uns die Signale gegeben.“

So wie Dr. Albert James Myer seine Flaggensprache aus der Zeichensprache der Comanchen entwickelt hatte so gelang es Grock und Miles während der letzten Indianerkämpfe aus den Spiegelsignalen der Indianer das heliographische Signalisieren zu entwickeln, und damit waren beide Zeichensprachen durch die Begegnung mit den Indianern in der amerikanischen Prärie gewonnen worden, die wir als die Grundlage des ganzen moder­nen Nachrichtenwesens ansehen müssen.