Adolf Reichwein – Die Herkunft des Stacheldrahtes

Männer, die in den Gräben des Ersten Weltkrieges lebten, erinnern sich aus den zermürbenden Zeiten der Stellungskämpfe jener Nächte, in denen Draht gezogen wurde. Damals krochen sie, vielleicht im Schneesturm, oder wenn der eiskalte Regen peitschte, am liebsten aber in pechschwarzer Nacht, aus ihrer vordersten Linie, zerrten die schweren stachligen Drahtrollen mit sich und verrichteten dann, oft nahe am Ohr des Feindes, ihr mühsames Werk. Was die feindliche Artillerie an Breschen geschossen, vielleicht auch die Drahtscheren des Gegners an Gassen geschnitten hatten, musste schnell wieder zugestopft, mit Stacheldraht versponnen und verwebt werden, denn dies war ja das Gesicht des Stellungskrieges: Armeen, lauernd aufeinander hinter Stacheldraht. Und wer dann blutend und zerschunden von dem hurtigen und stummen Geschäft der Nacht müde und zerschlagen in Graben und Granatloch zurücktaumelte, dem war Stacheldraht für die Zeit seines Lebens zu einem Begriff geworden. Ganze Generationen von Männern verknüpften mit dieser Erinnerung an den Stacheldraht das Bild des modernen Krieges, der Stacheldraht war fast zum Sinnbild des Krieges geworden. Wenige wissen, wie er in die Welt kam. Aber es ist ihm unvergänglich auf den Leib geschrieben, dass er ein Kind der Fehde und des Kampfes sein muss. Sein stachliger, feindseliger Charakter ist nur das Spiegel­bild der Gedankenwelt, der er entsprungen ist. Er muss ersonnen worden sein, um abzuwehren. Und er hat, das Schicksal wollte es so, ein Paradies zerstört. Den letzten gewaltigen paradiesischen Naturraum der westlichen Welt, die amerikanische Prärie. Denn dort ist er geboren. Viele von uns haben durch die Bücher ihrer Jugend noch eine Ahnung mitbekommen von dieser Welt des endlos wogenden Grases, die sich zwischen Mississippi und Felsengebirge dehnte wie ein wogendes Meer. Eigentlich begann sie erst westlich des berühmten 98. Längengrades, einer Landmarke, die jedes amerika­nische Kind kennt und immer kennen wird, weil sie ungefähr den Übergang von dem östlichen Waldland in die baumlose Prärie des Westens bezeichnet. Dieses herrliche wogende Grasland, das in jedem Frühling wieder frisch ergrünt und sich in einen weichen Tep­pich verwandelt, erscheint uns Rückschauenden heute als das Reich der legten großen Romanze der westlichen Welt. Der Cowboy war der Ritter dieses Landes, das zahllose weitschweifende Rinderherden bevölkerten, und die windschnellen berittenen Trupps der Indianer bedeuteten die Gefahr, ohne die keine echte Romanze denkbar ist.

In dieser Welt also wurde der Gedanke des Stachel­drahts geboren. Aus dem östlichen Waldland, den Mis­sissippi überschreitend, hatte sich langsam in den fünf­ziger und sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die Front der Ackerbauern nach Westen gezogen. Fast unmerklich, aber mit zäher Stetigkeit drang sie in das Reich der berittenen Hirten vor. Im östlichen Waldland hatte der Bauer seine wertvollen Äcker mit allerlei Zäu­nen zu schützen gewusst. Holzpfähle mit eingelegten Bohlen oder starke Bretterzäune, die auf wuchtige Pfosten genagelt wurden, fraßen zwar unheimliche Mengen Holz, aber der Reichtum schien ja unerschöpflich. Oder im Südwesten flocht man Buschwerk, Zweige und Äste in die Pfostenreihe, so wie es die Vorfahren als Erin­nerung aus den europäischen Ländern mitgebracht hat­ten. Oder man schichtete, wo Holz selten war oder sel­ten geworden, aber Gestein im Überfluss zur Hand war, Steinwälle auf, ein mühsames und langwieriges Ver­fahren. Selten war zunächst die lebende Hecke, denn alles musste schnell gehen in der Hast und Hetze einer neuen Welt. Als die Front nun in den sechziger Jahren in die Prärie vorstieß, fand sie dort weder Holz noch Steine. Womit sollte man zäunen? Zunächst blieben die Siedler an den Flussläufen, in deren Bett schmale Gehölzstreifen das Land durchzogen. So lange es Siedel­möglichkeiten an den Flüssen gab, mied man die offene Prärie. Man führte eine Art Kolonnenkrieg gegen die Steppe, der schmalspurig vorwärts getrieben wurde und sich an die natürlichen Verkehrsstraßen, die Flüsse, hielt. Aber allmählich flossen diese schmalen Siedel­streifen über, und dem Nachschub blieb nichts anderes übrig, als sich in die freie offene Prärie zu ergießen. Die siebziger Jahre waren heraufgekommen, die Umzäu­nung der Äcker gegen die Verwüstung durch das frei grasende Vieh wurde zur dringendsten Aufgabe. Der Bauer forderte natürlich, dass der Viehzüchter, der Hirte seine Weide umzäune, damit er seinen offenen Acker bewirtschaften könne. Umgekehrt rief der Vieh­züchter nach einer Umzäunung der Felder, damit seine an Freiheit gewöhnten Herden auch künftig ungehin­dert auf der endlosen Grassteppe weiden könnten. Während dieser Streit heftig hin- und herwogte, drängte sich die Frage auf, die beide Parteien gleichermaßen anging: womit umzäunen? In den Zeitungen und Zeitschriften der Präriestaaten gab es in den siebziger Jah­ren keine Frage, auch nicht politischer, wirtschaftlicher oder militärischer Natur, die so viel Papier verschlang wie diese.

In einem Bericht des Landwirtschaftsministeriums wurde 1871 klar das Problem gestellt: „Wenn eine Schar jun­ger Bauern nach Westen zieht, mit starken Fäusten und wenig Geld in der Tasche, aber mit dem großartigen Versprechen auf eine Heimstatt, die heute tausend und in der Zukunft zehntausend Mark wert ist, und dies alles für weniger als hundert Mark Gebühren — dann entdecken sie oft genug, dass sie fünftausend Mark brauchen, um eine Farm notdürftig abzuzäunen, kaum zum eigenen Nutzen, vor allem als Gemeinschaftsdienst gegen einen einzigen Viehzüchter, der reich an Herden ist und immer reicher wird, indem er sie ohne die ge­ringsten Kosten auf der freien Prärie grasen lässt. Diese kleine Gemeinschaft von zwanzig Familien vermag kein Recht in der Forderung zu entdecken, hunderttausend Mark auszugeben, um ihre Ernte vor den Viehherden ihrer umherziehenden Nachbarn zu schütten, die alle zusammen nicht einmal die Hälfte davon wert sein mögen.“

Von Illinois bis Texas brach nun der Kampf der Be­lange zwischen westlichen Hirten und von Osten kom­menden Bauern auf breiter Front in aller Schärfe aus. Die Osterlinge traten für die Umzäunung der Weiden ein, die Westerlinge natürlich für die Umhegung der Äcker. Eine leidenschaftliche Auseinandersetzung ent­spann sich. Die alten Freiheiten der Viehzüchter standen gegen die neuen Ansprüche und Lebensbedürfnisse einer zuwandernden Schicht von Ackerbauern. Alle nur möglichen Gründe wurden ins Gefecht geworfen. Man berechnete, dass für Umzäunungen mehr ausgegeben werden müsse als selbst für Eisenbahnen, die gerade den stärksten Auftrieb ihrer Geschichte erlebten. Auf die schweren Holzverluste wurde hingewiesen, auf den Nutzen, der den Viehzüchtern erwüchse, wenn er statt auf freier Prärie auf umzäunter Weide grasen lasse. Man vergaß nicht, darauf hinzuweisen, dass jährlich durch das freie Umherstreifen der Herden dem Werte nach mehr natürlicher Dünger verloren gehe, als die Einhegung der Herden kosten werde.

Inmitten dieses Durcheinanders der Meinungen wurde ein großer Versuch gemacht, das Problem mit der lebenden Hecke zu lösen. Während Holzzäune im all­gemeinen nach zehn Jahren erneuert werden mussten, war der lebende Zaun für die Dauer. Und es gab ja Hecken, die sogar dicht waren gegen Schweine und Rinder wie gegen Pferde. In den fünfziger Jahren war bereits eine lebhafte Welle von Heckenpflanzung vorweggelaufen. Allein im Nord­westen sollen im Frühjahr 1860 rund dreihundert Mil­lionen Pflanzen gesetzt worden sein, macht hunderttau­send Kilometer Hecke! In den siebziger Jahren nun bekam diese Methode ihren letzten Auftrieb. 1877 wurde eine öffentliche Rundfrage nach der besten Hecke für Texas veranstaltet. Die erste Antwort lautete: „Nur Dornenhecken werden sich gegen Schweine und Rinder bewähren.“ Als geeignetste Pflanze wurde die Cherokesenrose vorgeschlagen, die sich jedem Boden anpasse, und neben ihr eine dornige Akazienart. Ein eifriger Debattant schrieb damals: „Der Allmächtige würde nie­mals ein Land wie Texas geschaffen haben, ohne es zu­gleich mit einer ihm anstehenden Heckenpflanze auszu­statten.“ Aber — es gab kein Aber: keine der vorge­schlagenen Pflanzen wäre für die trockene Hochebene geeignet gewesen. Mitten in diese Versuche, für die lebende Hecke eine Lösung zu finden, platzte am 30. Dezember 1879 ein Inserat in den Galveston News:

SANBORN & WARNER
Einziger Agent des Herstellers für Texas
Gliddens Patent
STACHELDRAHT FÜR ZÄUNE
Galvanisiert
usw.

Der Stacheldraht war also da. Und damit eine Erfin­dung, die billigere Zäune lieferte als alle ihre Vorläu­fer. Im Reich der Cowboys, an den Lagerfeuern des Graslandes wurde die Erfindung sofort in ihrer um­wälzenden Kraft begriffen. Die Männer im Sattel hatten genügend Naturinstinkt, um die unentrinnbare Ent­scheidung zu wittern. Und so entstand das volkstümliche Gedicht „Stacheldraht und Wanderer“ (barbed wire and wayfarers):

Vom Himmel sagt man, er sei ‚freie Weide‘, sagt Lebewohl, auf Nimmerwiedersehen —    weil Teufels Hutband, Stacheldraht, uns von ihm scheide,
und in der Hölle man mit Stacheldraht sich decke…

 

In Worcester, Massachusetts, dem alten Zentrum der amerikanischen Stacheldrahtindustrie, gibt es ein Mu­seum, welches die Geschichte dieser merkwürdigen Erfin­dung von den ersten Versuchen an eingefangen hat. Mit den Erfindungen ist es so: sie liegen in der Luft, viele fühlen und ahnen sie voraus, basteln an den Ver­suchen; einige, oft sind es zwei gleichzeitig, haben Er­folg, und einer geht in die Geschichte ein. Die Dornen­hecke schenkte die Idee zum Stacheldraht. Er kam zum Druckbruch und wurde sofort berühmt, weil seine Vor­züge sich klar bewährten in der baumlosen, sturm- und schneereichen Steppe: er bietet dem Sturm kaum Widerstand, den Schneewehen — im Gegensatz zum Holz­zaun — keine Angriffsfläche, ist außerdem dauerhafter als Holz, verhältnismäßig billig und wirft keinen Schat­ten. Jedenfalls fielen diese Vorzüge ins Auge und hatten etwas Bestechendes. Und zum Glück für den Stachel­draht hatte man noch nicht die Erfahrung des zwanzig­sten Jahrhunderts, dass allein Hecken und Baumpflan­zungen die erodierende Wirkung des ewigen Prärie­windes aufheben können. Aus den Patentanmeldungen wissen wir, dass alle Erfindungen von Stacheldrahtmu­stern aus der Prärie stammen. Am unbestrittensten aber gebührt der Name des Erfinders dem Farmer J. F. Glid­den aus Illinois. 1873 fertigte er seine ersten Muster. Und gewiss ist, dass er dem Stacheldraht seine wirt­schaftlich und technisch brauchbare Form gegeben hat. Dem Glidden-Patent von 1873 lag sofort jene Form zugrunde, die sich bis heute fast unverändert erhalten hat.

Der Stacheldraht bedeutete das Ende der offenen Prärieweide und die Umstellung auf die geschlossene Wei­deform. Seine Einführung bedeutete zugleich das Ende der eingeborenen Rinderrasse, die ursprünglich von Me­xiko eingewandert war, der longhorns, und die Ent­wicklung neuer amerikanischer Zuchtrassen an ihrer statt. Es war auch vorbei mit dem Viehtrieb über Tau­sende von Kilometern, den alljährlichen Süd-Nordwan­derungen der gewaltigen Herden, die sich auf ihrem Wege durch das wunderbare saftige Steppengras rund und glatt fraßen, um schließlich an den Kopfstationen der nördlichen Eisenbahnen nach Osten verladen zu werden. Die Romanze der freien Prärie, deren letzten Widerschein wir nur noch aus zahllosen Erzählungen kennen, starb. Ordnung und Pflege, Wissenschaft und Zucht traten ihr Regiment an.

Die Wandlung vollzog sich nicht ohne Blutvergießen. Zaunleute und Zaungegner lagen lange in Fehde. In Texas, Wyoming, Neu-Mexiko brach regelrechter Klein­krieg aus. Immer wieder wurden Stacheldrahtgehege zerstört. Manchmal war der Hass der Hirten nur zu verständlich, denn oft wurden von Bauern die Wasser­löcher umzäunt, verkehrsreiche Wege und Straßen ge­sperrt. Es war ein Kampf, in dem das geltende Recht auf beiden Seiten stand und am Ende der wirtschaftlich Stärkere, der mit dem Stacheldraht Verbündete, siegte. Ein Cowboy, der später sein Leben in Texas beschrieb, erzählte: „Als ich eine Stacheldrahtmaschine bei der Arbeit sah und man mir sagte, dass Tausende dieser Art am Werke seien, ging ich nach Hause und erzählte den Männern, sie sollten die Drahtscheren einpacken, das Pfählespalten aufgeben und statt dessen auch den Stacheldraht verwenden. Es war mir sofort klar, dass der Stacheldraht gewinnen würde, und dass die Tage des Cowboys zwischen Stacheldraht und Eisenbahn gezählt seien.“